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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Tayler, meine Damen und Herren – und ich möchte hinzufügen, daß ich jedem seiner Worte von ganzem Herzen zustimme. ›Es ist eine weit verbreitete Ansicht‹, sagt Taylor, ›daß Mann und Frau, weil sie vor dem Gesetz die Ehe eingegangen sind, das Privileg haben, sich zügellos der geschlechtlichen Liebe hinzugeben. Diese Ansicht ist falsch. Die Natur erkennt bei der Anwendung ihrer Gesetze keine menschlichen Verfügungen an, und sie zögert nicht, jeden Verstoß gegen ihre Gesetze zu bestrafen, sowohl bei denjenigen, die ordnungsgemäß verheiratet sind, als auch bei denjenigen, die es nicht sind.‹«
    Dr. Kellogg hielt inne, um den Blick über das Publikum schweifen zu lassen; es gab nicht eine einzige Person im Raum, die nicht auf der Stuhlkante saß. Er räusperte sich. »Ich möchte hier noch etwas betonen, meine Damen und Herren, die Sie nach Gesundheit und der rechten Lebensweise streben, denn Mr. Taylor trifft den Nagel auf den Kopf: ›Exzessives Ausleben geschlechtlicher Gelüste führt bei verheirateten Paaren zu ebenso großen und andauernden schädlichen Auswirkungen wie bei alleinstehenden Männern und Frauen und ist nicht mehr oder weniger als legalisierte Prostitution. ‹Meine Damen und Herren, ich wiederhole, › legalisierte Prostitution‹.«
    Eine der jüngeren Patientinnen schnappte nach Luft – Froeble, oder? Annaliese; vierzehn Jahre alt, Chapel Hill, North Carolina; Brightsche Krankheit, Diabetes, Autointoxikation, Fettleibigkeit. Dieses Atemholen verschaffte dem Doktor eine Pause: War seine Art, die Wahrheit zu sagen, vielleicht zu verstörend für junge Gemüter? Aber er verwarf den Gedanken so schnell, wie er ihm gekommen war – sie würde die bittere Wahrheit bald genug erfahren, wenn sie erst einmal irgendeinem brutalen, lüsternen Kerl von einem Ehemann ausgeliefert wäre; besser, sie war mit einer physiologischen Rüstung gewappnet, wenn es soweit war.
    Er fuchtelte mit den Armen wie ein Derwisch, wirbelte auf seinen winzigen Füßen um die eigene Achse und arbeitete sich zurück bis zu dem kleinen Podium. »Sssso«, zischte er in einem langen, gepreßten Atemzug, »und wie wirkt sich mangelnde Kontrolle der fleischlichen Begierden aus? Wie sieht die Gefahr aus, auf die ich heute abend so viele Male angespielt habe, das traurige Schicksal der verheirateten Paare, die glauben, diese Vereinigung so regelmäßig und fast so oft wiederholen zu können wie ihre Mahlzeiten?«
    Niemand offerierte eine Antwort. Sie waren stumm wie Steine, aber er hatte sie in der Hand, hatte sie mit Haut und Haaren – er erkannte es an den wachsamen Mienen, den verstohlenen Blicken, den gesenkten Köpfen und dem nervösen Beinewippen oder Fingerklopfen.
    »Nun denn: wie würde es sich auswirken, wenn man in einen Motor, der bislang nur Wasser gewöhnt war, plötzlich Benzin schüttete? Die meisten Männer – die meisten anständigen Männer jedenfalls – und alle ehrbaren Frauen führen, bis sie heiraten, ein enthaltsames Leben, und dann werden sie mit einemmal in einen Tumult nervöser Erregung versetzt, der ihr Nervensystem buchstäblich verbrennt und dabei allmählich das Verdauungs- und Ausscheidungssystem zerstört. Zumindest für den Mann, der soviel lebenspendende Säfte absondert, bedeutet es den Ruin, den absoluten Ruin.«
    Miss Muntz rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, warf dem Doktor einen beschämten Blick zu und sah sofort wieder weg. Mrs. Tindermarsh war eine lebende Statue, abgesehen von der Andeutung eines Grinsens. Ein paar der Männer, Will Lightbody und J. Henry Osborne jr., der Fahrradkönig, unter ihnen, war unbehaglich, um nicht zu sagen, unwohl zumute.
    »Aber für die Frau« – an dieser Stelle begann Dr. Kelloggs Stimme vor Mitleid zu triefen –, »die von schwächerer Konstitution ist und deswegen schlechter in der Lage, diese schrecklichen Nervenschocks zu verkraften, nehmen die Wirkungen die ganze Bandbreite zwischen leichter Hysterie und nervlicher Erschöpfung bis zu Krebs, Marasmus und Tod ein. Kein Wunder, daß Midulet unser Zeitalter als das Zeitalter der Unterleibskrankheiten charakterisiert.« Und dann schüttelte er mitleidsvoll den Kopf, runzelte und glättete die glänzende Stirn wie ein Pendel, das zwischen großem Kummer und Erlösung schwankt, und richtete sich auf, um den endgültigen Schlag auszuteilen. »Und jetzt, meine Freunde, meine Patienten, meine Begleiter im Streben nach einem von Krankheit und Beeinträchtigungen freien Leben, frage ich

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