Willkommen in Wellville
einzeln zu unterhalten und sich des Ausmaßes ihres Fehltritts zu versichern. Aber die Beweise sprachen ganz eindeutig gegen sie. Mr. Lightbody hatte die Nacht, soweit es sich feststellen ließ, in Mrs. Lightbodys Zimmer verbracht, und obwohl man natürlich nicht sagen konnte, was hinter geschlossenen Türen vor sich ging, sah die Sache doch gewiß verdächtig aus – insbesondere für jemanden, der die menschliche Natur so gründlich kannte wie der Doktor. Vielleicht hatte der Mann nur bei seiner Frau gesessen oder geschlafen, ganz einfach nur – neben ihr – geschlafen. Dennoch, einmal ganz abgesehen von allen Entschuldigungen, es war ein empörender Vorfall, und gleichgültig, ob schuldhaftes Verhalten vorlag oder nicht, der Doktor, der bereits gereizt war dank der kleinen Konfrontation mit George und seinen Verbündeten, war entschlossen, sie so oder so ein bißchen schwitzen zu lassen.
»Ich erwähne diese Überschreitung nicht leichthin, meine Damen und Herren«, sagte er, stellte das leere Glas ab und bedachte das Publikum mit seinem strengsten Blick, »sondern als warnendes Beispiel für Sie alle und als strenge Mahnung, das größte Risiko für Leben und Gesundheit zu vermeiden, das ich mir vorstellen kann.«
Jetzt fing er an, sich zu ereifern, sein Gehirn vollgestopft mit einem Wirrwarr medizinischer Ausdrücke, grauenerregender Statistiken, Namen hervorragender Ärzte und eindrucksvoller Befunde, seine Arme zuckten ständig hin und her, weil er keine Geste vollständig ausführte, seine Füße machten sich selbständig – und plötzlich stand er nicht mehr hinter dem Pult, sondern aufrecht und beherzt zwischen den guten, aber fehlgeleiteten Menschen, die sich versammelt hatten, um ihn anzuhören. »Selbst die Jüngsten, Gesündesten und Kräftigsten unter uns, meine Freunde, entgehen den schwächenden Wirkungen sexueller Exzesse nicht, tut mir leid, daß ich das sagen muß. Aber ich erschaudere angesichts der Folgen, wenn die Organismen beider Partner bereits angeschlagen sind – wie es bei diesem Paar mit absoluter Sicherheit der Fall ist – durch den doppelten Schock von Autointoxikation und neurasthenischer Entkräftung.« Und jetzt fesselte seine Stimme ihre Aufmerksamkeit voll und ganz, sie forderte, verkündete, erklärte gebieterisch: »In der Ehe müssen bestimmte hygienische Vorschriften eingehalten werden, meine Damen und Herren, und diese hygienischen Vorschriften dürfen ebensowenig mißachtet werden, wie man auf ein Bad verzichten darf oder auf das Wechseln der Bettwäsche.«
Im Publikum wurde es unruhig. Ein paar Männer – war das Homer Praetz? – hielten seinem stählernen Blick nicht stand.
»Und lassen Sie mich folgende Frage stellen – warum, glauben Sie, sind die Ordinationen der Gynäkologen in dieser unserer angeblich so zivilisierten Gesellschaft mit ausgemergelten und erschöpften Frauen überfüllt? Weil die Männer die ehelichen Bande mißbrauchen, deswegen. Die Ansicht, daß eine Eheschließung ein hemmungsloses Ausleben der Leidenschaften gestattet, ist weit verbreitet. Keine Ansicht könnte falscher sein.«
Der kleine Doktor schritt zwischen ihnen einher wie ein Koloß, jetzt wirbelte er herum, nun deutete er mahnend mit dem Finger, blickte einem beschämten Ehemann nach dem anderen in die Augen. Während er sprach, sich für das Thema erwärmte, die niederen Begierden und den priapeischen Drang anprangerte, schienen die Frauen im Publikum leise zum Leben zu erwachen, wie Blumen, die im Treibhaus blühen. Miss Muntz umgab ein grünliches Glühen, und ihr Gesicht schien nur noch aus Augen zu bestehen; Mrs. Tindermarsh grinste kaum merklich, als wüßte sie, wovon der Doktor sprach, wiewohl ihre Bekanntschaft mit den zur Debatte stehenden Dingen zu diesem Zeitpunkt eine rein erinnerungsmäßige sein mußte; Schwester Graves, die sittsam mit einer Gruppe Krankenschwestern ganz hinten stand, hielt sich jungfräulich gerade. Sogar Eleanor Lightbody, die sich eigentlich hätte schämen sollen, reagierte auf seine Worte mit unnatürlicher Lebhaftigkeit. Hoheitsvoll, ohne das geringste Anzeichen von Scham, bot sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf.
»Wir haben an unserer Schule der Gesundheit keinen Platz für Satyrn und Fleischfresser, Libertins und Sybariten, ebensowenig wie wir Platz haben für diejenigen, die der Whiskeyflasche, der Tabakspfeife oder der Bratpfanne zugetan sind. Lassen Sie mich in dieser Angelegenheit keine geringere Autorität zitieren als Jeremy
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