Willkommen in Wellville
erfüllen hieß.« (Brrrrt!)
Nie zuvor war der Doktor so gedemütigt worden. Sein Magen verdrehte sich wie ein Wäschestück, das ausgewrungen wird, sein Herz pochte gegen seinen Brustkasten – sich diese Peinlichkeit vorzustellen, seine eigenen Kinder, und das auch noch in der Öffentlichkeit! Er hörte die folgenden Hymnen und Weihnachtslieder nicht mehr, sah auf den Straßen nur noch den gelben Matsch, raunzte Ella an und hieß Clara aus dem Schlitten aussteigen, als wäre sie eine Dienstmagd. Zu Hause ließ er alle zwanzig Kinder in Reih und Glied antreten und begann ein Verhör, das Torquemada vor Neid zum Erblassen gebracht hätte. Weihnachten werde nicht stattfinden, brüllte er, es gebe keine Geschenke, kein Weihnachtsessen, für keins der Kinder irgendwelche Privilegien während des nächsten Monats, außer der Schuldige trete vor. Und er wisse, wer es sei. Er wisse es bereits – und es habe keinen Zweck, es auf Brüder oder Schwestern oder die Kinder aus der Stadt zu schieben – und dieser Jemand solle nicht nur vor dem Doktor und der armen Jonella erzittern, sondern auch vor Gott, der ihn erschaffen und dessen Haus er geschändet habe. Nun?
Die Kinder blieben stumm. Niemand trat vor.
»Arme ausstrecken!« schrie der Doktor. Vierzig Arme schoßen nach vorn und wurden in Schulterhöhe parallel zum Boden gehalten. »Ihr werdet hier stehen bleiben, ihr alle miteinander, und eure Arme genau so halten, bis der Übeltäter vortritt – und es ist mir egal, ob es die ganze Nacht dauert, bis Neujahr, Ostern oder bis zum Heldengedenktag! Habt ihr mich verstanden?«
Die kleine Rebecca Biehn begann zu schniefen. Ihre rundlichen Ärmchen zitterten bereits. George, der gleich hinter ihr stand, blickte ausdruckslos. »Hannah Martin!« rief der Doktor, und das Kindermädchen erschien mit gesenktem Blick. »Sie werden aufpassen.« Dann wandte John Harvey Kellogg den Kindern den Rücken zu und zog sich in seine Privatgemächer zurück.
Zwanzig Minuten später wurde leise an die Tür seines Büros geklopft, wohin er sich mit einem Stapel Sanatoriumspapieren und einer Tasse Glühwein (selbstverständlich alkoholfrei) zurückgezogen hatte. Es war Hannah Martin. Neben ihr stand Adolfo Rodriguez, damals vierzehn Jahre alt, der dem Doktor nicht in die Augen sehen konnte. »Ja?« sagte der Doktor.
Hannah Martin senkte demütig den Kopf, schluckte hörbar und flüsterte so leise, daß der Doktor sie trotz seines scharfen Gehörs kaum verstand. »Adolfo hat gestanden.«
Dr. Kellogg war wie vom Donner gerührt. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff: Adolfo, der tapfere Junge, der getreue Junge, der von Prinzipien geleitete, edle und aufopfernde Junge wollte die Verantwortung auf sich nehmen. »Es tut mir leid, Sir«, sagte der Junge, »aber ich gestehe.«
»Komm her«, befahl der Doktor.
Adolfo, sein Rücken gerade wie ein Besen, durchquerte den Raum wie ein kleiner Soldat. Eineinhalb Meter vor des Doktors Schreibtisch blieb er stehen. »Näher«, sagte der Doktor.
Adolfo gehorchte, kam bis auf dreißig Zentimeter an die glänzende, polierte Schreibtischplatte heran.
»In Ordnung«, sagte Dr. Kellogg, »ich weiß ganz genau, was du jetzt tun willst, Adolfo, und ich bin stolz auf dich. Aber du würdest mich doch nie, unter keinen Umständen, anlügen, oder? Eine Lüge aus deinem Mund würde mich mehr verletzen als hundert unflätige Darbietungen wie die von heute nachmittag – hast du mich verstanden?«
Der Junge ließ den Kopf hängen.
»Du bist nicht der Schuldige, nicht wahr, Junge?«
Die Antwort war kaum hörbar. »Nein.«
»Das hab’ ich mir schon gedacht.« Der Doktor war jetzt auf den Beinen, kaum mehr in der Lage, sich zu beherrschen. Er hob einen Winkelmesser auf und legte ihn wieder hin. »Und wer war es? Und denk dran, du darfst nicht versuchen, jemanden zu schützen, wenn das zur Verdunkelung der Wahrheit führt. Das ist die Lektion, die du aus dieser Geschichte fürs Leben lernen kannst. Also, wer war es? Und sprich wie ein Mann.«
Eine Last war von ihm genommen. Adolfo sah den Doktor mit seinen dunklen Aztekenaugen an und versuchte, das Zucken eines winzigen Lächelns zu unterdrücken. »George«, sagte er. »George war es, Sir.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, marschierte der Doktor an dem Jungen vorbei, durchs Vestibül und ins Zimmer der Kinder. Die Kinder standen immer noch da, die Arme mühsam ausgestreckt. »George!« brüllte der Doktor, »George Kellogg, tritt augenblicklich
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