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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Sie folgendes: Wie viele Frauen, die heute abend unter uns weilen, können sagen: ›Seit meiner Hochzeitsnacht geht es mir nicht mehr gut‹? Meine Damen und Herren, denken Sie darüber nach. Denken Sie darüber nach, und verhalten Sie sich entsprechend.«
    Er faltete die Hände, als wollte er beten, und senkte den Kopf. »Ich danke Ihnen.«
    Und dann brach der Applaus los, ein verblüffter, schockierter Applaus, der von sich selbst überrascht war, aber beständig anschwoll, der lauter wurde, dankbarer und mehr aus dem Herzen kommend, ein Geschenk für den einzigen Mann unter ihnen, der aufstand und die schmerzliche, aber ungeschminkte Wahrheit aussprach. Dr. Kellogg neigte demütig den Kopf. Eine volle Minute verging, bevor die Begeisterung etwas abflaute, und dann, als der Applaus endlich nachließ und der Doktor seine Notizen einsammelte, schnellte in der ersten Reihe eine Hand in die Höhe, und eine Stimme übertönte den Lärm: »Eine Frage, Dr. Kellogg – gestatten Sie eine Frage aus dem Publikum?«
    Die Bitte wirkte beruhigend, der Applaus ebbte zu einem vereinzelten Klatschen ab und hörte schließlich ganz auf. Der Doktor konzentrierte den Blick auf einen Mann Anfang Zwanzig, der etwas Saft- und Kraftloses an sich hatte. Er hatte einen dünnen, schwarzen, an den Spitzen gewachsten Schnurrbart und an der Kinnspitze einen Bart wie ein Künstlerpinsel. Er ließ träge den Arm sinken und erhob sich, um die Frage zu stellen – aber wer war er gleich wieder? John Harvey Kellogg kannte ihn, er kannte sie alle. Einen Moment: Crampton? Cruthers? Crowley? Nein, nein. Krinck, so hieß er. John Hampton Krinck jr. , Hyde Park, New York; Morphiumsucht, Geschlechtskrankheit, Autointoxikation. O ja. Ein Libertin erster Güte, hatte die Stücke von Shaw und die Romane von Dreiser gelesen. »Ja, Mr. Krinck?« sagte der Doktor und machte sich auf eine Herausforderung gefaßt.
    Der junge Krinck stand einen Augenblick lang da mit Schultern, die herunterhingen, als wären sie aus Butter, einen morbiden, verschlagenen, rebellischen Ausdruck im sinnlichen Gesicht. Seine Stimme klang nasal und unangenehm, als würde er durch ein Schilfrohr blasen. »Es tut mir sehr leid, Doktor, aber reden Sie hier nicht dem Aussterben der Rasse das Wort? Wenn die geschlechtliche Vereinigung um jeden Preis vermieden werden muß, selbst innerhalb der Ehe, was für eine Hoffnung gibt es dann noch für uns, abgesehen von der jungfräulichen Empfängnis?«
    Die Frage provozierte Kichern – gewiß wollte das dreiste junge Mondkalb ihn provozieren, wollte einen makabren Scherz machen, den sich auch George ausgedacht haben könnte oder an dem er sein Vergnügen gehabt hätte –, aber niemand in der Menge wagte auch nur zu lächeln. Der Doktor ärgerte sich. Dieser Drogensüchtige, dieser verzärtelte, rotznasige, mit feigen Begierden und Lastern vollgesogene Schwamm, dieses berüchtigte schwarze Schaf, dieser Mensch, der einer der reichsten und respektabelsten New Yorker Familien nur Schande machte, wagte es, ihn auf den Arm zu nehmen? Ha! Er konnte ihn zermalmen, ihn mit einem einzigen Satz vernichten – aber nein, das wäre nicht die physiologische Methode. Sie sollten etwas lernen – alle, die es betraf, auch Mr. Krinck. Der Doktor legte erhabene Zurückhaltung an den Tag und sah dem jungen Mann einen Moment in die Augen, ohne die Miene zu verziehen, bevor er sich dem Publikum zuwandte. »Jungfräuliche Empfängnis, sagten Sie? Nun, als Wissenschaftler halte ich sie für höchst unwahrscheinlich« – eine Pause für anerkennendes Kichern –, »aber als Moralist und Arzt wünsche ich mir nichts anderes.«
     
    Wie gewöhnlich wartete Dab im Korridor auf ihn, und wie gewöhnlich schwitzte, schnaufte und keuchte er, weil er sich wegen irgend etwas aufregte. Was immer es war, der Doktor wollte nichts davon hören. Er schwebte auf der Glorie des Augenblicks, und seine Stimmung sank, als Dab händeringend und Unverständliches stotternd auf ihn zugewatschelt kam. Nicht jetzt, dachte er, nicht heute, aber er gestattete seinem Sekretär, mit ihm in Gleichschritt zu fallen und blieb kurz stehen, um zu murren: »In Ordnung, Poult, raus damit – wo liegt das Problem?«
    Aber es handelte sich nicht um ein Problem, sondern um mannigfaltige Probleme, Plural, und alle hatten mittlerweile krisenhafte Proportionen angenommen und erforderten seine sofortige Aufmerksamkeit. Zuerst einmal war da George. Offensichtlich aufgebracht über des Doktors früheren

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