Willkommen in Wellville
Rausschmiß, hatte der Junge die seitdem verstrichenen Stunden genutzt, um sich aufs heftigste und schändlichste zu betrinken, und jetzt saß er mitten auf der Straße, genau gegenüber dem Haupteingang des San, und schleuderte der Crème de la Crème der gesund und reformiert lebenden Gesellschaft Schimpfnamen entgegen, wenn sie auf der kreisförmigen Auffahrt vor dem San in ihre Fahrzeuge stiegen. »Er nennt sie ›Wiederkäuer‹ und ›Körnerfresser‹, Doktor, und in einem Fall, so berichtet der Portier, hat er doch tatsächlich mit einem Wurfgeschoß nach einem Patienten gezielt.«
Sie schritten den Korridor entlang auf die Eingangshalle zu, die Wände glitzerten weihnachtlich, der vornehm gedämpfte Lärm aus der Halle war bereits zu hören. Der Doktor sah strikt geradeaus, kämpfte um Selbstbeherrschung. Jedes Wort aus Dabs Mund war eine spitze Nadel, die sich in seine Nervenenden bohrte – er mußte ausruhen, das mußte er unbedingt; kein gewöhnlicher Sterblicher konnte all das verkraften. »Wurfgeschoß?« sagte er, wobei er wütend ausschritt, kurz diesem oder jenem Arzt zunickte.
»Äh, eigentlich, Boss«, keuchte Dab und tat sein Bestes, um Schritt zu halten, »war es eine Corn-flakes-Schachtel – eine von Ihrem Bruder –, und sie war vollgestopft, äh, mit, also, mit Maiskolben, Sir. Gebrauchten Kolben, Sir, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
John Harvey Kellogg blieb wie angewurzelt stehen. Eine Patientin im Rollstuhl lächelte ihn affektiert an – Mrs.? Mrs.? Ach, was kümmerte ihn das schon! –, und er ignorierte sie. »Gebraucht?« wiederholte er.
Dab betrachtete seine Hände. »Er muß irgendwo, äh, in, äh, einer Latrine gewesen sein und, äh, und dann …«
Der Doktor holte so tief Luft, als handelte es sich um seinen letzten Atemzug. »O Gott!« schrie er, »dieser Junge soll verdammt sein, verdammt soll er sein, ein für allemal verdammt!« Zwanzig Köpfe wandten sich ihm zu und ebenso schnell wieder ab. Der Doktor hatte sich erneut in Bewegung gesetzt, marschierte wie ein Infanterist mit aufgepflanztem Bajonett durch die Halle. Als er den Korridor auf der anderen Seite erreichte und wütend auf sein Büro zusteuern wollte, blieb er plötzlich stehen und wirbelte zu seinem Sekretär herum. »Lassen Sie ihn einsperren«, sagte er. »Rufen Sie Farrington und lassen Sie ihn ins Gefängnis werfen. Aber vermeiden Sie jegliches Aufsehen, verstanden?« Dann drehte er sich um und verschwand in seinem Büro.
Dab folgte ihm auf den Fersen.
Es gab noch mehr. Der Ofen im Treibhaus des San war ausgefallen, und Tomaten, Okra, Mangobäume und Chrysanthemen waren am Erfrieren; ein Mr. Smotkine aus Sedro Woolley, Washington, hatte sich am patentierten Zwieback des Doktors einen Zahn abgebrochen und drohte mit einer Klage; und Lillian, die Schimpansin, hatte Murphy in ihren Käfig gesperrt, Dr. Distasos Hosenbein vom Aufschlag bis zum Schritt aufgerissen und lief jetzt in den Experimentierküchen Amok … und dann war da noch die Sache mit der Weihnachtsgans.
In seinem ganzen Leben, während all der Krisen, denen er die Stirn geboten hatte, selbst während des mysteriösen Brandes, der das San vor fünf Jahren in Schutt und Asche gelegt hatte, hatte sich der Doktor dem Zusammenbruch nicht so nahe gefühlt. Es war zuviel. Einfach viel zuviel. Er hatte seine Zufluchtsstätte, den Schreibtisch, erreicht und stand jetzt dahinter, der Augenschirm fest auf die Stirn geklemmt. »Die Sache?« wiederholte er, und er hörte das Flattern in seiner Stimme. »Was für eine Sache?«
»Sir?«
»Die Gans. Was ist mit der Weihnachtsgans?«
»Sie sieht etwas verhärmt aus, Doktor. Und sie will nicht fressen. Murphy ist, glaube ich, der Meinung, daß sie sich erkältet hat, und wir wollen doch nicht, daß es noch mal so ein Problem wie mit dem Thanksgiving-Truthahn gibt, zumindest dachte ich, daß Sie das nicht wollen, und ich dachte, Sie sollten es wissen.«
Genau das hatte noch gefehlt. Der Thanksgiving-Vogel hatte ihn ziemlich in Verlegenheit gebracht, der Speisesaal war bereits halb gefüllt gewesen mit pflichtbewußt fletcherisierenden Patienten, als eine der Schwestern den Kadaver entdeckte – und wie, bitte, sollte er das seinen physiologischen Novizen erklären? Wenn er nicht einmal einen Truthahn am Leben erhalten konnte, was bedeutete das für Großmama und Tante Emmeline? Um abzulenken, hatte er die Weihnachtsgans vor der Zeit ins Spiel gebracht und ihren Käfig an derselben Stelle aufgestellt,
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