Willkommen in Wellville
vorbeigeschoben wurde, Gummiräder auf harten italienischen Kacheln. »Mir … mir liegt einfach zuviel an Ihnen«, sagte sie schließlich, ihre Stimme nur noch ein schwaches, zögerndes Flüstern, und dann war sie verschwunden, und zum erstenmal konnte er seine Milch allein und unbeobachtet trinken.
Mit der Zeit ließ sie sich erweichen – nachtragend zu sein, auch in therapeutischen Angelegenheiten und solchen, die medizinische Prinzipien betrafen, entsprach einfach nicht ihrer Natur –, und als sie ihn abholen kam und vor dem San inmitten eines Schneegestöbers und zu weihnachtlichen Klängen des Sanatoriumchors in dem Schlitten verstaute, standen sie wieder auf dem alten freundschaftlichen Fuße. Es war ein kalter, stürmischer Tag, und der Wind brannte in seiner Lunge und scheuerte ihm Nase und Ohren wund, aber er nahm die Welt um sich herum mit wachen Sinnen wahr. Der Geruch der Pferde (hatte er je etwas so Lebensbejahendes, etwas so Potentes gerochen?), der Anblick der Spatzen, die sich wie Pensionisten in den windgebeutelten Ästen von Ulmen und Eichen aneinanderdrängten, die Musik der Schlittenglöckchen und das Hochgefühl, als die eisige Luft in seinen Ohren knatterte – es war ein Fest für die Sinne. Und außerdem, er mußte es zugeben, war er erleichtert, daß die anderen beiden bevorzugten Patienten Frauen waren – eine Gräfin Masha Tetranova, die behauptete, nie von einem Professor Stepanovich gehört zu haben, wiewohl Petersburg ihre Heimat war, und Mrs. Solomon Teitelbaum, die junge Frau eines Schweineschmalzfabrikanten aus Brooklyn. Er war erleichtert, weil er Männer erwartet hatte, Männer, bei denen Schwester Graves vermutlich die gleichen intimen therapeutischen Rituale ausgeführt hatte wie bei ihm, und er hatte damit gerechnet, ärgerlicherweise ihre Aufmerksamkeit mit anderen teilen zu müssen. War er eifersüchtig? Ja. Und was bedeutete das? Er wollte es lieber nicht wissen.
Wie auch immer, sie verbrachten einen guten Teil des Nachmittags damit, übers Land zu sausen, die Glöckchen bimmelten rhythmisch zu dem gedämpften Geklapper der Hufe, ein feiner Überzug aus Schnee wirbelte von den Kufen auf und ließ sich auf Decken, Handschuhen, Schals, Pelzkragen und Hüten nieder. Ihr Ziel – eine Überraschung – war die Farm von Schwester Graves Eltern, gute sechs Meilen östlich der Stadt. Sie verließen die Marshall Road, fuhren über eine einspurige Brücke aus Holzbohlen und entdeckten ein hübsches Feldsteinhaus mit einem vom Schnee gepuderten Dach aus blaugrauem Schiefer, das mitten zwischen Steinzäunen und uralten Nebengebäuden stand. Eine Kiefern- und Tannenallee säumte einen ziemlich großen Teich – gläsern vor Eis um diese Jahreszeit – und führte sie bis an die Tür, wo sie zwei Collies mit sanften feuchten Augen erwarteten. Die Gräfin bemerkte, daß es hier einfach »ganz bezaubernd« sei, aber ihr Tonfall besagte etwas anderes; was Mrs. Teitelbaum anbelangte, so war sie nie zuvor außerhalb der Stadt – irgendeiner Stadt – gewesen, und ihre Züge waren vor Unsicherheit verkniffen.
Will verspürte keine Sympathie für die beiden Damen. Er war tatsächlich aufrichtig bezaubert. Er kraulte die Ohren der Hunde, bewunderte den Stechpalmenkranz an der Tür, wurde beinahe ohnmächtig, als er die erste ambrosische Prise von Mrs. Graves Pfeffernußplätzchen roch (aber o weh, keine Plätzchen für ihn – er mußte noch immer die Milchdiät einhalten, und Irene hatte sechzehn kleine Hundertzwanzig-Milliliter-Flaschen, alle ordentlich mit Wachs versiegelt, für den Nachmittag mitgebracht). Da waren Schwestern und Brüder, insgesamt ihrer acht, im Alter zwischen weniger als einem Jahr und siebzehn, und Will schenkte allen eine Münze und sah ihnen ins Gesicht wie ein Anthropologe, staunte angesichts der wundersamen Wiederholung der Züge, die bei ihrer ältesten Schwester einen so großartigen Ausdruck gefunden hatten. Der Stamm der Graves wies einen charakteristischen Zug um das Kinn auf, einen Zug ruhiger Entschlossenheit, von Schneid, der zurückging auf ihre Vorfahren, die gegen die Potawatomi gekämpft hatten, aber er wurde gemildert durch kaum merklich hochgezogene Mundwinkel, die ihnen allen den Anschein verliehen, als hätten sie eben über einen guten Witz gelacht. Ihre Ohren waren vollkommen wie die Irenes, ihre Augen abgrundtief und von einem uniformen Braun, das Haar von einer unbestimmbaren Farbe, weder blond noch brünett. Will studierte auch die Eltern
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