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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Nachgeschmack des schlechtesten Essens seines Lebens ankämpfte und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, spürte er eine Hand auf seiner Schulter. In dem Moment, als er sich umblickte, sah er Eleanors Gesicht vor Freude erstrahlen, und dann starrte er auf den weißen Wattebart und in die bebrillten Augen des Weihnachtsmannes höchstpersönlich.
    Klein, spitzbäuchig, die Mundwinkel zusammengekniffen wie ein gewiefter Yankeehändler und das Funkeln des Fanatikers in den Au gen, stand der Weihnachtsmann der Gesundheit vor ihnen in dem roten Samtmantel und den hohen holländischen Stiefeln der Legende. »Ho-ho«, verkündete Dr. Kellogg, und man sah ihm an, daß er den Auftritt genoß, »seid ihr in diesem Jahr brave Männer und Frauen gewesen? Und habt ihr kein Schweinefleisch, Rindfleisch, Lamm oder Wild gegessen? Und Bier und Schnaps, Tabak und Kaffee entsagt? Ho-ho! Natürlich habt ihr das, natürlich!« Und er warf seinen Sack auf den Boden und zog zwei stoppelige gelbe Ananas heraus. »Eine für Sie, meine Liebe«, krächzte er und reichte Eleanor die Ananas, als wäre es das letzte und ausgesuchteste Juwel von König Salomons Schatz, und dann drehte er sich zu Charlie um.
    Charlie nahm verblüfft die Ananas und hielt sie in beiden Händen. Alle Anwesenden beobachteten sie. Selbst der Mandolinenspieler war verstummt.
    »Ho-ho«, sagte Dr. Kellogg, und er wollte sich schon abwenden und zum nächsten Tisch tänzeln, als er noch einmal stehenblieb. »Kenne ich Sie, Sir?«
    Charlie versuchte, wie jemand anders auszusehen, ein Wiederkäuer, Kleiefresser, ein Besucher aus Cleveland. »Nein«, brummelte er, »ich glaube nicht.«
    »Oh, ich glaube doch, ich glaube doch!« rief der Doktor und wirbelte herum, wobei er eine Schulter übertrieben tief hängen ließ und komisch mit den Stiefeln scharrte. »Der Weihnachtsmann kennt alle im San, alle seine Gäste, die großen und die kleinen …« Alle brachen in Gelächter aus. Zwinkernd beugte er sich vor. »Helfen Sie mir, helfen Sie mir. Mr. Hodgkins, nicht wahr, aus Dayton? Nein? Nun, Sir, sagen Sie, Sie sind also nicht einer meiner Patienten?«
    »Nein, ich …«
    »Ein Besucher?«
    »Also ich …«
    »Ho-ho, ho-ho! Wußte ich’s doch!«
    Es war die ahnungslose Eleanor, die die Situation rettete. Sie lachte, herzlich, ungeheuchelt, sie lachte wie ein junges Mädchen mit Zöpfen in der ersten Reihe des Kasperletheaters. »Doktor«, japste sie zwischen tremolierendem Kichern und kontrapunktischem Schluckauf, »Doktor, darf ich vorstellen« -wieder brach sie ab –, »einen Freund aus New York vorstellen, Charles –«
    »Aus Tarrytown«, fiel Charlie ein in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit von seinem Namen abzulenken, für den Fall, daß er die Gehirnwindungen des kleinen Mannes aktivieren und zu einer extrem unangenehmen Szene führen sollte.
    »– Ossining«, sagte Eleanor.
    Aber Kellogg hörte nicht zu. Beflügelt von der Möglichkeit, sich auszutoben, die seine Rolle bot, rief er: »Ja, ja, Mr. Tarrytown-Ossining!« Und alle lachten, gutgelaunt, gemüsegesättigt, lasterfrei und strotzend vor Gesundheit – einer wie der andere, von den Kellnerinnen bis zu den Grandes Dames und den Tellerwäschern, die ehrfürchtig in der Küchentür standen. »War mir ein Vergnügen, Sir, ein Vergnügen«, johlte der Doktor, und im nächsten Moment hüpfte er unter donnerndem Applaus durch den Raum, und Charlie saß da, hielt noch immer die Ananas in Händen wie ein Anarchist eine Bombe, die nicht explodiert ist.

5.
KELLOGGS STICH
    Will hatte nicht zum erstenmal einen Kater – genaugenommen war er angesichts der nur noch nominellen Position als Geschäftsführer in der Firma seines Vaters in Verbindung mit Eleanors Abstieg in die Niederungen von Vegetarismus, Neurasthenie, Frigidität und Quacksalberei den größten Teil der letzten fünf Jahre verkatert gewesen. Aber noch nie so. Das hier war anders, eine Geißel, die ihn hinten und vorn traf, als hätte er Salzsäure statt Whiskey getrunken, statt Rindfleisch, süßen Stückchen und sauer Eingelegtem Eisenspäne gegessen. Zwei Tage lang kotzte er, einen dünnen, sauren Brei, rot gefärbt von Blut. Aus dem anderen Ende floß ein wäßriger Schleim, ebenfalls rot. In seinen Fingerspitzen prickelte es, seine Füße waren Blöcke aus Eis, seine Zunge überzog ein neuer Belag. Er lag auf der Folterbank des physiologischen Bettes und betete um Gleichgewicht, und wenn er den Atem anhielt, um den Schmerz für zehn Sekunden in Schach

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