Willkommen in Wellville
Gesundheit. »Wissen Sie«, hauchte sie und errötete ein ganz klein wenig, »ich habe es versucht. Mit dem Frauen-Tief-Atem-Club – nun, wir haben uns die letzten zwei Wochen im Freien getroffen, natürlich nur dort, wo wir ungestört sind, am Frauenschwimmbad –«
In den Augen des Gesundheitsapostels glomm ein seltsames Licht, als würde er sich vorstellen, wie sie die Frauengruppe anführte, in entkleidetem Zustand. »Ja?« sagte er. »Und?«
Sie sah weg. »Nun, wir haben experimentiert – so wie es die Männer sonst tun, soweit ich weiß –, indem wir uns unserer Kleidungsstücke entledigten –«
»Ja!« unterbrach er sie, ballte die Fäuste und streckte die Arme empor wie ein triumphierender Krieger, »das ist es, genau das ist es! Kleidungsreform, Eleanor, beginnt damit, daß man den Körper von künstlichen Zwängen befreit, und ich rede jetzt nicht über Korsetts aus Fischbein, wiewohl diese Apparaturen einer modernen Frau ungefähr so angemessen sind wie die Knochen, die sich die Kannibalen von Neuguinea durch die Nase stecken – nein, Eleanor, und Sie haben es bereits verstanden, es geht weit tiefer.« Er blickte ihr in die Augen. »Wissen Sie, was ich unter diesen kurzen Hosen anhabe?«
Sie hatte nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, nicht in ihren wildesten Phantasien, aber in diesem Augenblick wußte sie es.
Er grinste sie zähnefletschend an, einen winzigen Augenblick zu lange. »Sind Sie vertraut mit Freikörperkultur, Professor Kuntz’ grundlegendem Werk über die deutsche Nudistenbewegung?«
Und warum raste ihr Puls plötzlich so. Sie kam sich vor wie ein Mädchen, das darauf wartete, zum Tanz aufgefordert zu werden. »Ja, natürlich.«
Wenn er gerade eben noch interessiert gewirkt hatte, so sah er jetzt eindeutig so aus, als stünde er unter Hypnose. Hinter ihm, keine dreißig Meter entfernt, dirigierten Professor Gunderson und Frank zwei Arbeiter mit Schaufeln und Hacken, und Virginia Cranehill, Anfang Vierzig und stämmig, saß steif auf einer Decke neben einem Korb mit Sandwiches aus der Sanatoriumsküche. »Wirklich? Und was halten Sie davon?«
Sie schirmte noch immer die Augen ab, stützte sich auf einen Ellbogen und riß einen Grashalm aus, um darauf herumzukauen. »Es ist eine ziemlich revolutionäre Angelegenheit«, sagte sie, ohne zu zögern. »Und eine logische. Wenn man an die Anfänge der Menschheit zurückdenkt, dann erscheint es als das Vernünftigste der Welt, uns nackt der Sonne auszusetzen. Es ist natürlich und rein. Aber leider hat uns die Gesellschaft diese hassenswerten Kleidungsstücke aufgezwungen –« Und um das Gesagte zu unterstreichen, zupfte sie an den schweren Falten ihres Rocks.
»Aber sie sind entzückend«, widersprach Lionel, kniete sich hin und beugte sich näher zu ihr. »Ich wollte Ihnen schon den ganzen Morgen sagen, wie überaus bezaubernd Sie heute aussehen – das ganze Ensemble steht Ihnen ausgezeichnet, schmeichelt Ihnen –, und unter der breiten Krempe Ihres Hutes scheinen Ihre Augen zu schmelzen wie zwei Butterflöckchen …«
Was sollte sie darauf sagen? Sie dankte ihm für das Kompliment.
»Aber ich weiß, was Sie sagen wollen«, fuhr er fort, »Kleidung engt ein, wird von der Mode diktiert, ist unnütz und absolut albern bei Wetter wie diesem. Und ich kann mir sehr wohl vorstellen, daß Sie auch ohne – gewissermaßen au naturel – ganz bezaubernd aussehen. Professor Kuntz hätte Ihnen die Kleider einschließlich der Liebestöter in weniger als einer halben Minute ausgezogen.« Er ging in die Hocke, breitete die Arme aus, um das Licht, die milde Brise, die wilde Landschaft, die bis zum Horizont reichte, aufzunehmen. »Und noch dazu an einem Tag wie diesem! Keine Waldlichtung in Bayern, kein Berg und kein rauschender Wasserfall im Schwarzwald können sich mit diesem Anblick hier messen – finden Sie nicht auch?«
»Ja«, stimmte Eleanor zu und knabberte an ihrem Grashalm, »aber wenn wir heute die hiesige Art von Freikörperkultur praktizieren würden, Lionel, dann müßte ich auf Ihre und Franks und Professor Gundersons Gesellschaft verzichten, ganz zu schweigen von der erbaulichen Anwesenheit der zwei Erdschaufler da drüben. Ich wäre allein mit Virginia, und ich kann mir keine langweiligere Landpartie vorstellen, auch wenn der ganze Sonnenschein der Welt zur Verfügung stünde.«
»Aber nein, aber nein, meine liebste Eleanor. Der ziemlich bornierte und puritanisch eingestellte Direktor des San mag die Geschlechter trennen,
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