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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Er wartete auf das Pfeifen von Mrs. Hookstrattens Zug, so wie er in der Todeszelle auf die Schritte des Henkers gewartet hätte.
    Die letzten drei Nächte hatte er in seinen Kleidern geschlafen, sich Mrs. Eyvindsdottirs Haus erst nach Mitternacht genähert, um sich in der ersten Morgendämmerung zur Hintertür hinauszuschleichen. Plötzlich schien es, als wollte halb Amerika ein Wörtchen mit ihm reden. Gleich an dem Tag, nachdem er den Lakaien vom Post Tavern Hotel entkommen war, begann die Per-Fo-Korrespondenz seltsamerweise bei Mrs. Eyvindsdottir einzutreffen – und außerdem, als handelte es sich um einen reinen Zufall, Benders Rechnung. (Die Rechnung, die nicht nur die Kosten des vergangenen Monats enthielt, sondern unbezahlte Spesen bis zurück zum letzten Oktober, war Beweis sybaritischer Ausschweifungen, eine beeindruckende Chronik von Exzessen und Genußsucht. An einem Tag hatte sich Bender Hummer aufs Zimmer kommen lassen, am nächsten war er ins Wee Nippy hinuntergegangen, um mit großem Pomp Gäste einzuladen, hatte sich in seine Suite zurückgezogen und sich Coq au Vin, frittierten Dorsch und Kalbsschnitzel à la Guennoise einverleibt, um anschließend den Speisesaal aufzusuchen, wo er eine Riesenflasche Piper Heidsieck leerte und dazu einen Teller mit Beluga-Kaviar verspeiste; am gleichen Tag hatte er sich drei Paar Schuhe und sechs Hemdbrüste kommen lassen, eine Droschke, einen riesigen Blumenstrauß und mit seinem Monogramm bestickte Bettwäsche bestellt.)
    Aber die Rechnung war Charlies kleinste Sorge – sie zumindest war auf Benders Namen ausgestellt. Was ihn beunruhigte, was ihn von seinem Bett, seinem Zimmer, seinem Haus fernhielt, war die Flut wütender Briefe von geprellten Lebensmittelhändlern, glücklosen Investoren, zürnenden Grundstücksmaklern und besorgten Anwaltskanzleien von überall aus dem Mittleren Westen und Nordwesten, die alle an Charles P. Ossining, Geschäftsführender Direktor, Per-Fo Company, Inc., Suite 414, Post Tavern Hotel adressiert waren. Hatte sich Bender als Charles P. Ossining ausgegeben, als er den Leuten die getürkten Per-Fo-Schachteln aufschwatzte und Witwen ihre Pension abluchste? Hatte er sich zu so etwas hergeben können? Es sah auf jeden Fall so aus. O ja, genauso sah es aus. Und das war erst der Anfang – es gab noch mehr drängende rechtliche Probleme, die Bender vor ihm geheimgehalten hatte. Es schien, daß mehrere Verfahren gegen sie am Gericht von Calhoun County anhängig waren, die ihnen durch gerichtliche Verfügung Produktion, Verkauf und Lieferung von »Kellogg’s« Per-Fo untersagten und Schadenersatz forderten aufgrund der widerrechtlichen Führung eines Markennamens. Da waren auch drei Briefe ihres Anwalts, eines Mr. Barton Noble, Woolhough Street, der mit ihnen über seine Rechnung sprechen wollte. Dringend.
    Charlie stand unter Schock. Seit vier Tagen. Er hätte es wissen müssen – hatte es gewußt –, aber Bender hatte ihn genauso um den Finger gewickelt wie das Personal des Post Tavern Hotel und alle anderen, die ihm je über den Weg gelaufen waren. Ab und zu hatte er ihnen einen Brocken hingeworfen, und ansonsten hatte er geblufft, geprahlt, betrogen und alle übers Ohr gehauen. Charlie war ein Grünschnabel. Ein gutgläubiger Trottel. Ein Vollidiot. Er war ins Netz gegangen, gerupft, ausgenommen, gefüllt, gebraten, gegessen, verdaut und ausgeschissen worden. Er hatte geglaubt, er wäre auf dem besten Weg, ein Tycoon zu werden – und jetzt war er nichts weiter als ein Krimineller. George Kellogg, ein Penner aus der Gosse, ein zerlumpter Alkoholiker, igelte sich in seliger Ahnungslosigkeit in seinem bereits bezahlten Zimmer bei Mrs. Eyvindsdottir ein, während Charlie sich dem Haus nicht auf fünfzig Meter nähern konnte – Männer warteten davor auf ihn. Gerichtsvollzieher. Geldeintreiber. Knochenbrecher.
    Wenn das der Tiefpunkt seines Lebens war, als er jetzt ratlos auf den stummen, gleichgültigen Brettern saß, während sich die Jungs sammelten, um ihre wertlosen Aktien zu verhökern, und Henry Delahoussaye am anderen Ende des Bahnsteigs aus dem Schatten trat, dann sollte es alsbald noch viel schlimmer werden. Denn in diesem Augenblick kam der riesige Schatten von Mrs. Hookstrattens Zug in Sicht, und er konnte ihn hören und durch die Erde spüren, ein Beben, das durch den Bahnsteig bis in seine Fußsohlen fuhr, das Donnern der unerbittlichen Macht, das das große Schild vor ihm in seiner Aufhängung quietschen ließ, als

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