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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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waren, verschwunden in Benders unersättlichem Schlund wie ein Stein, den man in einen Brunnen geworfen hat. Wie konnte er zugeben, daß es keine zufriedenen Arbeiter gab, die vor Bergen knuspriger goldener Frühstücksflocken ein Liedchen pfiffen, daß es kein Büro mit Mahagonieinrichtung gab, keine Förderbänder, keine Fabrik, kein Produkt, wie konnte er ihr sagen, daß Per-Fo nichts anderes produziert hatte als Anzeigen und gerichtliche Verfügungen?
    Er konnte es nicht, und er tat es nicht. Er stand von der Bank auf und mischte sich unter die drängelnde Menge, und irgendwie fand er die Kraft, die Furcht und den Ekel niederzukämpfen, die in seinen Adern brannten wie eine Infektion. In diesem Augenblick verschrieb er seine Seele dem Teufel. Er spürte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, schmeckte den süßen Sirup der Lügen, der sich auf seiner Zunge sammelte, merkte, wie das Bild der Welt klar wurde, als sähe er sie zum erstenmal. Nichts, was er bislang erlebt hatte, reichte auch nur annähernd an die schweißtreibende Spannung dieses Augenblicks heran, nicht die schwindelerregendste Hochstapelei, nicht die zittrigste Hand beim Kartenspiel und nicht der glücklichste Stoß beim Billard, nicht einmal sein Geschick bei Will Lightbody – bis jetzt war alles einfach gewesen. Das hier war seine Taufe, das war seine Feuerprobe.
    In seiner Jackentasche befanden sich, ordentlich gefaltet und in einem großen Umschlag, die hübschen blaugoldenen und absolut wertlosen Per-Fo-Aktien für Mrs. Hookstratten – die gleichen hatte er Will für seinen Scheck zukommen lassen –, und in der rechten Armbeuge, eingeklemmt wie einen Blumenstrauß, trug er die letzte rot-weiß-blaugestreifte Schachtel des falschen Produkts. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Keine Tränen wegen Bender, kein Versteckspiel – es gab nur noch diesen Augenblick. Grinsend, ekstatisch, mit glänzenden Augen und gebeugtem Rücken stand er auf dem Bahnsteig wie ein Freier und trat dann nach vorn, um sich ihm zu stellen.
    Wie Eleanor Lightbody vor ihr entstieg Mrs. Hookstratten dem Zug in einem Durcheinander aus Gepäckträgern und Koffern. Sie trug ein Reisekleid aus einem glänzenden blauen Material mit eng eingeschnürtem Oberteil, einen Hut, der Federn wie Funken abschoß, und eine lange Pelzstola, die bis zum Boden hing. Klein, wie sie war – sie war nicht viel größer als ein Kind, aber so robust wie ein Hydrant –, ging sie in der wirbelnden Geschäftigkeit unter, und Charlie verlor sie aus den Augen. Er kämpfte sich an einem Mann vorbei, der einen Koffer trug, so groß wie ein Sarg, umrundete höflich zwei untergehakte Nonnen und stieß mit einer Drehung der Hüfte einen Vita-Malta-Jungen gegen die Knie eines Mannes, der Dr. Pettibones Gesundheitstinktur verhökerte. »Tantchen Amelia!« rief er, obwohl ihm die Worte fast in der Kehle steckenblieben, und im nächsten Moment umarmte er sie.
    »Charles, mein lieber Charles«, gurrte sie, tätschelte seine Schulter unter Entwicklung von Parfum- und Puderwolken, und ihr Griff war erstaunlich kräftig und fest. »Laß mich dich ansehen«, verlangte sie und trat um Armeslänge zurück. Ihre Augen, durch die dicken Brillengläser vergrößert, schossen umher wie Fische in einem Aquarium, und dann verkündete sie, daß er gesund aussehe, aber ein bißchen dünn. »Und dein Anzug«, fügte sie mißbilligend hinzu, »der sieht aus, als ob du darin geschlafen hättest.«
    »Ja, also«, murmelte er, und plötzlich war er um Worte verlegen, aber das künstliche Lächeln behielt er bei (er hatte tatsächlich darin geschlafen, drei aufeinanderfolgende Nächte), »Geschäfte, weißt du. Ich hab’ für kaum was anderes Zeit. Und wenn wir schon vom Geschäft reden« – und mit ausholender Geste überreichte er ihr die letzte Schachtel Per-Fo der Welt –, »das ist für dich.«
    Ihr Mund klappte auf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Und umgeben von Handlungsreisenden, jugendlichen Aktienhändlern und Großeltern aus Ohio nahm sie die knallbunte Pappschachtel entgegen und preßte sie an ihren Busen wie einen wertvollen Schatz. Drei Gepäckträger, beladen mit ihren Koffern, sahen teilnahmslos zu, beobachteten dieses Ritual so ungerührt wie indische Fakire. »Charles«, stieß sie hervor, bemühte sich, genug Luft zu schnappen, um die auf sie einstürmenden Gefühle ausdrücken zu können, »oh, Charles, ich bin ja so stolz auf dich.«
    In der Droschke, auf dem Weg ins Sanatorium,

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