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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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während Charlie sich das Hirn auf der Suche nach einer halbwegs glaubwürdigen Erklärung zermarterte, warum er ihr nicht beim Hineinschaffen des Gepäcks behilflich sein konnte, erklärte sie sich näher. »Ich bin stolz auf dich, weil du dich für den Gesundheitsbereich entschieden hast, Charles«, hauchte sie mit vor Aufregung glänzenden Augen. Um sie herum senkte sich die Dämmerung herab. »Ich meine, daß du dich dem Allgemeinwohl widmest, während gleichzeitig auch noch was aus dir wird. Das ist ja nahezu ein Kreuzzug. Stell dir nur mal die vielen Verdauungssysteme vor, die Per-Fo vor dem Ruin retten wird … Ich wünschte nur, daß die Morgans und Rockefellers sich ebensolchen humanistischen Zielen verschrieben hätten. Aber ich fürchte, die Mehrheit unserer Preistreiber und Ellbogenmenschen denkt nur ans Geld. Es ist eine Schande, wirklich. Eine Schande.«
    Charlie nickte und entrang seiner Kehle ein unartikuliertes Knurren der Zustimmung. In diesem Augenblick dachte auch er an Geld. Fragte sich, ob er es irgendwie schaffen könnte, den vernichtenden Schicksalsschlag so lange hinauszuzögern, bis er mehr davon aus ihr herausgeholt hätte – der Liebe, der Dankbarkeit und dem achten Gebot zum Trotz. Wenn Bender ihm etwas beigebracht hatte, dann das: Laß dich nie von Skrupeln von irgend etwas abhalten. Bender hatte von Charlie etwas Weiches genommen, etwas Schwaches und Nachgiebiges, etwas Menschliches, und hatte es in die Flamme seines Zynismus gehalten, bis es schwarz geworden und geschrumpft und hart war wie ein Eisenbarren.
    »Und wie geht es Mr. Bender?« fragte Mrs. Hookstratten, tätschelte ihm die Hand und beugte sich aus dem Fenster, um diese neue, glorreiche Umgebung in sich aufzusaugen wie ein Pilger, der endlich vor dem Allerheiligsten steht. »So ein aufrechter Mann. Und mit einem solchen Weitblick.«
    Weitblick. Ja, Bender hatte Weitblick, zweifellos. Neben Bender wirkte der Erfinder der Gedächtnistabletten wie ein Waisenknabe. Von Anfang an, von dem Augenblick an, als ihm Charlie auf einer von Mrs. Hookstrattens Soiréen vorgestellt worden war, hatte Bender, der Freund eines Freundes von irgend jemandem aus der Hautevolee von Philadelphia, die gesamte Per-Fo-Bruchbude auf verfaulten Bohlen vor sich entstehen sehen, hatte all die gutgläubigen Trottel vor der Tür und quer durchs ganze Land bis nach Battle Creek Schlange stehen sehen – und Charlie ganz vorn –, und er hatte den Tag vorausgesehen, an dem die Einnahmen hoch genug sein würden, daß er das ganze marode Gebäude einreißen konnte. Was hätte Charlie nicht für einen Bruchteil dieses Weitblicks gegeben.
    »Charles?«
    »Ja?«
    Sie lachte auf. »Nehmen dich die Geschäfte so in Anspruch? Ich habe mich nach deinem Partner erkundigt, Mr. Bender: Wie geht es ihm?«
    »Gut«, platzte Charlie heraus. »Blendend. Könnte nicht besser gehen. Im Moment ist er jedoch nicht in der Stadt«, fügte er hinzu und spürte, wie er den Boden unter den Füßen verlor. »Er ist in St. Louis – kümmert sich um unsere Kunden.«
    »Wie schade«, murmelte Mrs. Hookstratten, als die Droschke die Washington Avenue hinauffuhr und die Lichter des Sanatoriums in Sicht kamen, protzig und kühn, ein sechsstöckiges elektrisches Lichtermeer, das die Dämmerung in Flammen setzte. »Ich habe mich so auf ein Wiedersehen mit ihm gefreut – aber er wird vermutlich bald zurückkommen?«
    »Bald? O ja – natürlich kommt er bald wieder, natürlich. In ein paar Tagen ungefähr. Oder in einer Woche. Ich meine, man weiß nie genau, wie lange eine Geschäftsreise dauert – er muß Aufträge beschaffen. Aber er kommt zurück. Ganz bestimmt.«
    Wenn er ihren Fragen auswich, schien es Mrs. Hookstratten nicht zu bemerken. Sie hatte jetzt das San entdeckt und stieß ein leises, anerkennendes Gurgeln aus, wobei sie blindlings nach Charlies Arm tastete. »Das ist es, nicht wahr?« rief sie, wartete jedoch nicht auf eine Antwort. »Ich hab’ es so oft auf Abbildungen und Postkarten gesehen. ›Ein prächtiger Tempel auf dem Hügel‹ – und es ist wirklich ein Tempel, nicht wahr?« Sie ging völlig in ihrer Erregung auf, dachte laut nach über ihre Glossitis, ihre Gürtelrose und das nervöse Jucken (»Ich habe mich so an Armen und Beinen gekratzt, daß ich aussah wie eine gehäutete Wilde, die man an einen Totempfahl, oder wie diese Dinger heißen, gebunden hat«), und das verschaffte Charlie wertvolle Augenblicke, um sich eine Entschuldigung auszudenken, warum

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