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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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ist die Fabrik? Ich frage aus reiner Neugier – vielleicht will ich sie eines Tages auch besichtigen.« Will lachte auf, wollte zum Ausdruck bringen, daß er, obwohl es sein Vorrecht als Aktionär war, keinen Druck ausüben wollte – er wollte sich keine Einladung an Land ziehen. Oder jedenfalls nicht nur.
    »Raeburn Street.«
    »Raeburn? Ich glaube nicht, daß ich weiß, wo –«
    »Im Osten der Stadt – oder vielmehr im Süden. Südosten.« Charlies Blick wanderte wieder die Straße hinauf und hinunter, über Wills Schulter, zurück zum Gebäude an der Ecke. »Hör mal, Will« – das alte, warmherzige Lächeln –, »ich muß weg. Geschäfte, weißt du. Aber laß uns doch mal zusammen zu Mittag essen. Demnächst. In Ordnung? Kein Whiskey, ich versprech’s dir.«
    Will lachte. »Nichts möchte ich lieber als das, aber wir müssen unsere Gelüste kontrollieren, stimmt’s? Soll ich Eleanor mitbringen? Und Amelia? Wir könnten zu viert essen.«
    »Ja, natürlich«, sagte Charlie, aber es klang nicht sehr überzeugt.
    »Weißt du«, sagte Will und hielt ihn auf – er hielt ihn auf, weil er nichts anderes auf der Welt zu tun hatte, als zurückzukriechen in seine Zelle im San –, »es ist komisch, daß wir uns in Peterskill nie begegnet sind, wo du doch Mrs. Hookstrattens Protegé bist, meine ich. Aber sie ist natürlich in erster Linie die Freundin meiner Mutter, und Eleanor und ich haben unseren eigenen Bekanntenkreis … Wie alt, sagtest du, bist du?«
    Es war eine ganz einfache Frage, geradeheraus, direkt, aber Charlie schien damit Schwierigkeiten zu haben. Er holte die Brille mit den getönten Gläsern aus der Manteltasche, rieb sie am Ärmel und brachte erst einen Bügel hinter dem einen Ohr an, dann hinter dem anderen, bevor er antwortete. »Ich werde im Juli sechsundzwanzig.«
    Sechsundzwanzig. Es hatte etwas Wehmütiges. Etwas Schönes und etwas Trauriges. Vor nicht allzu langer Zeit war Will sechsundzwanzig gewesen, ein zufriedener und gesunder Mann, glücklich verheiratet und um ihn herum, wie eine zweite Haut, der Glanz der Unsterblichkeit. Mit einemmal erfaßte ihn das dringende Bedürfnis, Charlie am Arm zu nehmen und ihn die Straße entlang ins Red Onion zu führen, mit ihm Whiskey und ein großes, schäumendes Bier zu trinken und Erinnerungen an die Jugend in Peterskill auszutauschen, an die Konzerte im Orchesterpavillon im Depew Park, ans Schlittschuhlaufen auf dem Fluß, an die Schule, ans Baseballspielen, an die Mädchen, die sie gemeinsam gekannt und denen sie vielleicht beide den Hof gemacht oder mit denen sie getanzt hatten, aber er kämpfte dagegen an. »Uns trennen nur fünfeinhalb Jahre«, murmelte er statt dessen. »Oder vielleicht sechs. Seltsam, daß wir uns nie begegnet sind – aber wahrscheinlich sind wir in verschiedenen Kreisen verkehrt –«
    »Ja, das wird’s sein. Aber hör mal, Will, ich muß jetzt wirklich gehen.« Charlie ergriff seine Hand. »War nett, mit dir zu reden.«
    »Fand ich auch.«
    Will blieb stehen und sah Charlie nach, bis er um die Ecke gebogen war, und dann machte er sich auf den Rückweg ins San. Bald würde es Abendessen geben – die Aussicht auf das Essen rief bei ihm kein besonderes Interesse hervor, aber Eleanor würde dabei sein. Und obwohl er sie mit Linniman und Badger und Dr. Kellogg und der Hälfte der älteren Damen, Ernährungsfreaks und Hausfrauen dort teilen mußte, obwohl er ihr wie ein Hahnrei bis zur Tür des geheimnisvollen Hauses in der Jordan Street gefolgt war und wie ein dressierter Affe neben ihr saß, war sie immer noch seine Frau, und er nahm, was er bekommen konnte.
    Außerdem liebte er den Ausdruck auf ihrem Gesicht, wenn sie von dieser Behandlung zurückkam.

5.
DIE PER-FO-FABRIK
    Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu lügen.
    Der Zug fuhr in den Bahnhof ein, die Gepäckträger eilten geschäftig hin und her, die Push-, Grano-Fruto- und Vita-Malta-Jungen kämpften um die besten Plätze mit den Leuten, die gekommen waren, um Freunde und Verwandte abzuholen, und Mrs. Hookstratten – Tantchen Amelia – saß hinter einem dieser gleißenden Fenster und sah hinaus auf die legendäre Vegetarier-Stadt mit all der Vorfreude, die auch Charlie am Abend seiner Ankunft verspürt hatte. Wie konnte er ihr erklären, daß die ganze Sache eine Pleite war, ein elender Fehlschlag und Schlimmeres? Wie konnte er erklären, daß jeder Cent ihrer sechstausendfünfhundert in Per-Fo investierten Dollar und die tausend Dollar Startkapital weg

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