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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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»und obwohl Mr. Sinclair nur ein Laie ist – das dürfen Sie nicht vergessen –, stimmen seine Ansichten mit einigen der fortschrittlichsten medizinischen Vorstellungen überein. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich die Frage der Fastenkuren in meiner Rubrik Gute Gesundheit angesprochen.«
    Eleanor nickte zustimmend.
    »Nun ja.« Er rieb sich heftig die Hände. »Darf ich das fragliche Buch sehen? Ich muß zugeben, daß ich es nicht kenne.«
    »Es ist nur ein Manuskript, Doktor«, murmelte Eleanor und reichte ihm den Text. »Es ist noch nicht veröffentlicht.«
    Der Doktor machte es sich auf der Schreibtischkante bequem und blätterte die Seiten durch, bis sein Blick an einem verwirrenden Absatz mit der Überschrift »Ein paar Anmerkungen zum Fasten« hängenblieb: Auf meiner Suche nach Gesundheit habe ich während der letzten sechs oder sieben Jahre nicht weniger als fünfzehntausend Dollar an Ärzte, Apotheker und Sanatorien gezahlt. Im letzten Jahr, als ich die Fastenkur entdeckte, habe ich überhaupt nichts gezahlt. Gefährliches Zeug. Die schlimmste Art von scheinheiligem Gefasel und Hypokrisie. Er schlug das Manuskript mit lautem Knall zu und gab es ihr zurück. »Und woher, sagten Sie, haben Sie es, Mrs. Lightbody?«
    Sie errötete, suchte nach Worten. »Ich … äh … um die Wahrheit zu sagen, ich gehe zu einem anderen Arzt – ich meine, außerhalb des Sanatoriums. Er hat es mir gegeben. Das heißt, durch Lionel.«
    Das war ja was ganz Neues – ein echter Schlag, Irrtum ausgeschlossen. Ein Arzt außerhalb des Sanatoriums? Lionel? Der Doktor zog die Augenbrauen zusammen. Bloese, der über seinen Schreibtisch in der Ecke gebeugt saß, zuckte zusammen. »Ich bin erstaunt«, sagte der Doktor schließlich. »Das bin ich wirklich, Mrs. Lightbody. Eleanor. Das ist eine der ernstesten Angelegenheiten, die mir in all meinen Jahren als Direktor dieser Institution zu Ohren gekommen sind. Begreifen Sie denn nicht, wie gefährlich es ist, auf einen vielstimmigen Chor zu hören, wie gut die einzelnen Absichten auch immer sein mögen? Schlimmer noch, ist Ihnen denn nicht klar, wie viele schlecht informierte, schlecht ausgestattete und skrupellose Ärzte es außerhalb des Sanatoriums gibt, die alle Jagd machen auf den Geschäftsmann mit dem ruinierten Magen oder die Hausfrau mit den zerrütteten Nerven? So gut sie es meinen, aber Lionel Badger und Mr. Upton Sinclair sind keine Ärzte, und keiner von beiden hat das Recht, bei der medizinischen Behandlung auch nur eines meiner Patienten mitzureden. Es ist eine Ungeheuerlichkeit, das ist es – eine Ungeheuerlichkeit. Wie konnten ausgerechnet Sie –?« Er konnte nicht weitersprechen. Unverständnis war in Wut umgeschlagen, und er fürchtete sich vor dem, was er als nächstes sagen könnte.
    Eleanor Lightbody starrte auf den Boden. Ihr Haar war eine lockige, hoch aufgetürmte Masse, wie das Gefieder eines exotischen Vogels. Sie war traurig und wunderschön, und noch wunderschöner, weil sie traurig war. »Es tut mir leid«, murmelte sie.
    »Es tut Ihnen leid?« wiederholte er. Er schritt wieder auf und ab, war unfähig, eine Minute stillzusitzen. »Es tut Ihnen leid? Warum? Für wen? Wegen mir braucht es Ihnen nicht leid zu tun, Verehrteste – ich lebe und denke jede Minute jeden Tages richtig. Wegen Ihnen sollte es Ihnen leid tun – Sie riskieren Ihre Gesundheit, Sie sind es, die unter Neurasthenie und den Nachwirkungen von Autointoxikation leidet, Sie setzen Ihre Genesung und Ihr zukünftiges Glück für eine Laune aufs Spiel, für einen Irrglauben.« Er stand jetzt vor ihr, zitterte in einem Anfall gerechten Zorns, und sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Und wer, wenn ich fragen darf, ist dieser Arzt, dieses große Genie, dem Sie Ihre Gesundheit anvertraut haben in absoluter Verleugnung dessen, was wir hier zu erreichen suchen? Wer? Wer ist es?«
    Sie sagte einen Namen, aber so leise, daß er ihn nicht verstand.
    »Wer?«
    Sie warf ihm einen kummervollen Blick von der Seite zu. In ihren Augen standen Tränen, und ihre Nasenflügel waren gerötet. Sie schniefte und hob ihr Taschentuch ans Gesicht. »Dr. Spitzvogel«, würgte sie heraus, und ein Zittern überlief sie.
    »Spitzvogel? Nie von ihm gehört. Und was ist seine Spezialität – wenn ich als Ihr behandelnder Arzt und Direktor dieser Institution es wagen darf, danach zu fragen?«
    Zuerst wollte sie nicht antworten. Sie schien darüber nachzudenken, und die Verzögerung machte ihn noch wütender –

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