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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Bloese die Tür öffnete. Termin? dachte er und fragte sich, wann er sie zum letztenmal untersucht und wer sie jetzt warum an ihn verwiesen hatte, und er war überhaupt nicht auf den Anblick vorbereitet, der sich ihm bot. Es war Eleanor Lightbody, die in der Tür stand, daran gab es keinen Zweifel, aber sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst, fahl und ausgemergelt, die Augen stumpf, und ihre Kleider mußten dringend enger gemacht werden. Das Begrüßungslächeln auf dem Gesicht des Doktors erlosch. Bloese senkte den Blick. Wie lange war es her, daß er sie gesehen hatte, wirklich angesehen hatte? Eine Woche? Zwei? Ein heißer, spitzer Nadelstich der Angst pikste den Doktor – würde er noch eine Patientin verlieren? –, aber er fing sich wieder, indem er hinter dem Schreibtisch hervortrat, ihr die Hand schüttelte und ihr einen Stuhl anbot.
    Eleanor saß steif da, aufregend schön trotz des Gewichtsverlusts. Doktor Kellogg fixierte sie ununterbrochen mit seinem scharfen, diagnostischen Blick. Hatte sie Krebs? Marasmus? Tuberkulose? Oder war es ein störrischer Sphinkter, eine verstopfte Schlinge im Dünndarm, ein Fall für Skalpell und Klammer? Ja, jetzt erinnerte er sich – es war Frank Linniman gewesen, der Besorgnis über ihren Zustand geäußert hatte, aber der Doktor hatte der Sache kein großes Gewicht beigelegt. Eleanor Lightbody war eine seiner Musterpatientinnen, eine der gesündesten und kooperativsten, definitiv auf dem Weg der Besserung und mit einer überaus erfreulichen Prognose. Er betrachtete ihre scharfgeschnittenen Backenknochen, die spitzen Schulterblätter und die Linie ihrer dünnen Schienbeine, die sich unter dem Rock abzeichnete, und er konnte einen kurzen, scharfen Pfiff nicht unterdrücken. »Sie haben abgenommen«, sagte er.
    Ihre Stimme klang gedämpft. »Ja.«
    »Nun«, und er begann auf und ab zu gehen, ein Panther der Gesundheit, der den Käfig seines Wissens ausmaß, »wir werden Sie auf eine neue Diät setzen müssen, mehr Taro, Tapioka, Nußmilch und so weiter.«
    Sie blickte ihn ruhig an. »O nein, Doktor«, murmelte sie, und ihre Stimme klang matt, »Sie wissen es nicht, aber ich habe gefastet.«
    »Gefastet?«
    »Ja«, und sie zog ein Büchlein aus ihrer Handtasche. »Ich habe Mr. Sinclair – Die Fastenkur – gelesen und mir gedacht … nun, ich habe gedacht, ich versuche es einmal.«
    Der Doktor schüttelte den Kopf. Ein warnender Finger ragte aus seiner Faust hervor, als hätte er einen eigenen Willen, und deutete drohend auf sie. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie fasten, ohne mich vorher konsultiert zu haben? Ich bin sprachlos. Sie sind hierhergekommen und haben sich unter meine Fittiche begeben, und dann beginnen Sie willkürlich eine eigene Diät – eine Fastenkur –, ohne meine Zustimmung einzuholen?«
    »Aber Dr. Kellogg«, protestierte sie, »es ist doch nur für zwölf Tage – nur ein Experiment. Mr. Sinclair ist so überzeugend, ich habe nur – also, ich habe gedacht, ich versuche es einmal. Gibt es denn einen besseren Weg, die Gelüste zu kontrollieren, als sie schlichtweg zu leugnen?«
    Insgeheim war der Doktor erleichtert. Sie fastete, das war alles. Es war kein Schaden entstanden. Sie müßte am Abend mit einem Joghurt und etwas warmer Milch anfangen, und er würde ihr dicke Soßen zum Gemüse, Vollkornbrot und Spaghetti verordnen, und in einer Woche hätte sie wieder ihr normales Gewicht. Dennoch durfte sie ihm die Erleichterung nicht vom Gesicht ablesen, er mußte dem Irrglauben Einhalt gebieten, er würde dulden, daß Patienten den Versuch unternahmen, sich selbst zu behandeln – man konnte nicht wissen, wohin das führte. »Darum geht es nicht«, sagte er.
    Eleanor blätterte in dem Buch auf ihrem Schoß. »Bei allem Respekt, Dr. Kellogg – und ich will Mr. Sinclair auf keinen Fall mit Ihnen vergleichen, er eifert schließlich nur Ihrem Beispiel nach –, ich muß doch sagen, daß ich mich besser fühle. In diesen elf Tagen hat sich mein System auf andere Weise gereinigt – sie waren eine Art Ferien für meine Eingeweide …«
    »Ich verstehe.« Der Doktor kniff die Lippen zusammen. Er wollte großzügig und verständnisvoll sein, aufgeschlossen für fortschrittliche Anschauungen und Ideen, aber alles, was er verspürte, war Gereiztheit. Er setzte sein Predigergesicht auf, wie ein Krieger zum Schild greift. »Fasten kann selbstverständlich ein unschätzbarer Bestandteil einer durch und durch physiologischen Lebensweise sein«, sagte er,

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