Willkommen in Wellville
Kinder unter seinem Blick schrumpften. Dann, während Georges unverfrorene Schmähung ihm noch in den Ohren klang und Hannah Martin sich bemühte, seinem Geschrei ein Ende zu setzen, machte der Doktor auf den Fersen kehrt und marschierte hocherhobenen Hauptes aus dem Zimmer.
George. So war George. Länger als einen Monat aß er offensichtlich absolut nichts – der Doktor sorgte dafür, daß er Tag und Nacht beobachtet wurde. Er mußte sich mit den anderen Kindern an den Tisch setzen und bekam das Gleiche serviert wie sie. Er rührte nichts an. Gleichgültig, was es war oder wie es zubereitet war. Er saß wie betäubt vor einem Eiergericht, vor Gemüse, Milchprodukten, vorverdautem Getreide und schmackhaften Soßen, Mahlzeit für Mahlzeit, Tag für Tag. Er war nie ein kräftiges Kind gewesen, aber jetzt wurden seine Gelenke und Glieder spindeldürr, und die Haut spannte sich über seinen Schädel. In ihren lichten Momenten redete Ella dem Jungen gut zu, und jedesmal, wenn Hannah Martin ihn ansah, traten Tränen in ihre Augen. Der Doktor war besorgt, Schuldgefühle rumorten tief in seinem Inneren wie Steine, die am Grunde eines unermeßlichen Meers von den Strömungen hin und her gerollt werden, aber er gab nicht nach, dachte nicht im Traum daran. George würde entweder essen, was man ihm vorsetzte, oder an Unterernährung sterben. Daran war nicht zu rütteln.
Die Nacht schloß sich um ihn herum, und schließlich, es war nach vier und begann bereits zu dämmern, gab Dr. Kellogg ihr nach. Er merkte, wie er hinüberglitt, Georges Gesicht wurde zu dem seiner Frau, seines toten Vaters, eines namenlosen Patienten, und er war fast angekommen, fast eingeschlafen, als plötzlich ein dumpfes, dröhnendes Geräusch im Haus widerhallte wie ein unheilverkündender Trommelwirbel. Er setzte sich kerzengerade im Bett auf, wacher als je zuvor, und horchte – hatte es gedonnert? Der Regen fiel mit einem beständigen Prasseln, es klang wie ein entferntes Brutzeln, wie tausend Yankee-Köche, die sich mit ihren Mägen aus Eisen über Pfannen mit gepökeltem Schweinefleisch und Pfannkuchen beugten, und er strengte sich an, das leisere Geräusch zu hören, das harte, kratzende Reiben des Zündholzes, dessen Flamme in der Dunkelheit aufblühte.
In diesem Augenblick erinnerte er sich wieder an Georges Miene an dem Tag, als er endlich wieder zu essen begann, sich ohne Erklärung oder Entschuldigung zum Frühstück, bestehend aus Taroschleim und Glutenbiskuits, hinsetzte, als ob es selbstverständlich wäre, als ob er am Tag zuvor zu Mittag und zu Abend gegessen und all die vielen Mahlzeiten eingenommen hätte, die bis weit in die Vergangenheit zurückreichten – all die Pfunde Fleisch, die sich im Hauptbuch summierten, all die Darm- und Blasenentleerungen! Gerötet vor Aufregung und ohne den Grund zu nennen, hatte Hannah Martin den Doktor geholt, der in seinem Privatquartier sein eigenes Frühstück auflöffelte und dabei seine Notizen studierte. Sie führte ihn durch das Haus in den Kinderflügel und ins Eßzimmer, und da war er, George, hielt den Löffel in der Hand und griff nach dem Glas Milch wie jedes andere Kind auch. Er blickte nicht auf, als der Doktor eintrat – er saß einfach da, halslos, vom Fleisch gefallen, seine Knochen wie Stecken auf dem Grund eines ausgetrockneten Teichs, und aß. Er sah nicht ein einziges Mal auf, aber sein Blick sprach Bände. Eingefallen, verhärmt, mit tief in den Höhlen liegenden Augen, trug er die Miene eines Helden zur Schau, eines Eroberers, eines Mannes – nicht mehr die eines Jungen –, der seinen Standpunkt klargemacht hatte.
Eine schlaflose Nacht konnte ein physiologisches Wunder wie John Harvey Kellogg nicht wirklich aus der Bahn werfen, aber gegen drei Uhr nachmittags spürte er, wie er etwas langsamer wurde, als ob er mit einer unsichtbaren Kette irgendwo angebunden wäre. Er saß nach einem besonders befriedigenden Stich an seinem Schreibtisch, trank eine Tasse mit heißem Rote-Bete-Saft, um sich zu stärken, und arbeitete an einer Skizze für eine neue Apparatur, mittels welcher er Patienten mit Durchblutungsstörungen an den Fersen aufhängen konnte, als es an die Tür klopfte. Er konnte eine gewisse Verärgerung nicht unterdrücken, aber Bloese sprang wie ein Jagdhund von seinem Schreibtisch in der Ecke auf und verkündete: »Drei Uhr fünfzehn, Ihr Termin mit Mrs. Lightbody.«
Der Doktor schob resolut den Augenschirm zurecht und stand auf, um sie zu begrüßen, als
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