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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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würde sie es wagen, ihm die Antwort vorzuenthalten? Aber dann biß sie sich auf die Lippen und blickte ihm direkt in die Augen. »Manipulationstherapie. Die Handhabungstherapeutik. Er manipuliert meinen … meinen« – sie blickte zu Bloese, warf dann dem Doktor einen Blick zu und sah schließlich auf das Manuskript in ihrem Schoß –, »meinen Unterleib.«
    »Ihren Unterleib?« Der Doktor riß sich den Augenschirm von der Stirn und schleuderte ihn auf den Schreibtisch. Er hatte gedacht, er würde alles kennen, alles, jede Schwäche, jede kleine Sünde, jeden Anflug von Unwissenheit und Lasterhaftigkeit, aber er hatte sich geirrt. Erstaunen interpunktierte seine Worte: »Er – manipuliert – Ihren – Unterleib?«
    Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, ein so tiefes Schweigen, daß der Doktor glaubte, das Blut in seinen Adern rauschen zu hören. Bloese rührte sich nicht. Niemand atmete.
    »Ja!« rief Eleanor plötzlich, mit einer Stimme, rauh vor Leidenschaft, vor Scham, vor Trotz. Sie war aufgesprungen. Ihre Wangen waren naß, ihre Glieder starr. »Ja!« wiederholte sie, das Wort harsch wie ein Schlachtruf, »und nie in meinem Leben habe ich mich wohler gefühlt!« Und dann drehte sie sich um und rannte zur Tür hinaus, schlug sie hinter sich zu mit einem Knall, der wie das erste warnende Grollen eines sich zusammenbrauenden Unwetters klang.
    Der Doktor starrte verwundert zu Boden, tauschte mit Bloese einen Blick und schüttelte dann langsam den Kopf. Er war müde. Gott, war er müde.

7.
GOGUAC LAKE
    Will konnte nicht aufhören zu pfeifen. Er fühlte sich überschwenglich, die in Fingern und Zehen prickelnden Melodien des größten Kapellmeisters überhaupt, des Unvergleichlichen, des Königs, Kaisers und Gottes der Marschmusik, John Philip Sousa, gingen ihm durch und durch, fuhren ihm in die staksigen Beine. Während der letzten Stunde hatte er im gesprenkelten Schatten einer Sanatoriumsulme gestanden und zugesehen, wie die Sanatoriumsblaskapelle über die Sanatoriumswiese marschiert war: die Beine schritten mit physiologischer Präzision aus, die Ellbogen wiegten sich rhythmisch, auf den Instrumenten funkelte das Licht. Sie probte für die vom Boss vorgesehenen Festlichkeiten am Heldengedenktag, wobei außerdem ein Picknick auf der Wiese vorgesehen war, eine Varieté-Vorstellung, bei der die Künstler, unter anderem »Professor« Sammy Siegel und ein halbes Dutzend zwangsverpflichteter Talente aus dem Sanatorium, mit schwarzgeschminkten Gesichtern auftreten würden, mehrere lebende Bilder unter Mitwirkung der berühmten Vivian DeLorbe und ein für diese Gelegenheit verfaßtes Drama, aufgeführt von den Mitgliedern des Tief-Atem-Clubs. Obwohl er Heimweh hatte, obwohl seine Frau zu einer Fremden geworden war und seine Nöte sich vervielfachten wie Fruchtfliegen auf einer faulenden Banane, konnte Will dem großen Sousa einfach nicht widerstehen. Durch die Lücke zwischen seinen Vorderzähnen entwich die Luft, schrill wie der Pfiff eines überhitzten Wasserkessels, und eine hohe, blecherne Version der Free Lunch Cadets hallte in den Korridoren des San wider, als er, martialisch ausschreitend, auf Dr. Kelloggs Büro zumarschierte.
    Obwohl er keine Ahnung hatte, warum er ihn zu sich bestellt hatte – des Doktors Sekretär mit dem steinernen Gesicht war vor dem Frühstück bei ihm erschienen und hatte gefragt, ob elf Uhr genehm wäre –, ließ Will sich davon nicht anfechten. Nach einem halben Jahr wußte er, wie man sich zu verhalten hatte – lächle, bis dir das Zahnfleisch weh tut, sieh gesund und einfältig aus und gib nichts preis. Vor allem stell keine Fragen und erwarte keine Antworten. Wenn Will je geschwankt hatte in seiner Meinung, wenn er je gehofft hatte, daß die Methoden des weißgekleideten kleinen Diktators irgend etwas taugten, so waren der Verlust einer Darmschlinge, die Entfremdung seiner Frau und das unmißverständliche Schicksal von Miss Muntz, Homer Praetz und dem schwitzenden Amanuensis des Doktors genug, um die Waage eindeutig und für immer nach einer Seite ausschlagen zu lassen. Er blieb Patient, sein Zustand war unverändert, aber er wartete nur den richtigen Zeitpunkt ab in der Hoffnung, daß Eleanor zur Vernunft kommen würde und sie in die Parsonage Lane zurückkehren und ihr normales Leben wiederaufnehmen könnten. Er gab sich keinen Illusionen hin. Keinerlei Illusionen.
    Aber an diesem speziellen Tag schien Dr. Kellogg nahezu erfreut, ihn zu sehen – und das war

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