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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Atem.
    Aber George überraschte ihn. Statt die Treppe, die sie eben heruntergekommen waren, wieder hinaufzulaufen und dann zwischen den Flammen und dem freien Himmel zu wählen, stürmte der Junge durch die Tür des ersten Labors auf der rechten Seite – »Fäkalienanalyse« las der Doktor, als er ihm folgte. Aber dann bremste er. Blieb stehen. Auf der Schwelle zu dem dunklen Raum. George mochte es nicht bemerkt haben, aber er war eben in eine Sackgasse gelaufen – der Raum war lang und schmal, unterteilt und nochmals unterteilt von unzähligen Regalen mit Proben, und er hatte nur einen Ausgang, und den blockierte John Harvey Kellogg. Er sagte kein Wort. Horchte. Dann schaltete er das Licht ein.
    Nichts. Wenn George glaubte, er würde mit ihm Versteck spielen, dann war er verrückt. Er brauchte nur stehenzubleiben, bis Hilfe kam – irgend jemand hatte das Feuer oben bestimmt schon bemerkt, jemand vom Rumpfpersonal oder einer der Feiernden auf der Wiese. Sie würden sich darum kümmern – sie kümmerten sich bereits darum –, und dann würden sie die Korridore einen nach dem anderen kontrollieren. Er verschränkte die Arme vor der Brust und richtete sich darauf ein zu warten. Er war sich seiner Sache schon völlig sicher, als er plötzlich ein Geräusch hörte, laut wie ein Schuß, und an der Wand über seinem Kopf zerbrach ein Glas. Dann stieg ihm der Geruch in die Nase, ein urtümlicher Fäkaliengestank. Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, und in diesem Augenblick zerbarst ein weiteres Glas an der Wand und dann ein drittes: George zerstörte die Proben. Er entheiligte Sanatoriumsunterlagen. Unterminierte das System an seiner Wurzel. Ein Glas traf den Doktor an der Brust und fiel vor seine Füße, wobei sich sein Inhalt in einer leisen, nahezu schüchternen Explosion ergoß. George warf mit Scheiße nach ihm!
    Das war es. Das war das Ende. Der Doktor warf jegliche vernünftige Erwägung über Bord und stürzte sich mit einem Schrei in den Raum. Das war ein Fehler. In diesem Augenblick sprang George drei Regalreihen entfernt in Sicht, und als sich der Doktor auf ihn werfen wollte, sah er sich plötzlich mit dem Phänomen konfrontiert, daß ein ganzes Regal in Bewegung geriet, eine sich bewegende Mauer von Fäkalien, in Gläsern konserviert, auf ihn herabsank, und im nächsten Augenblick war er darunter begraben. »Dr. Anus!« kreischte George höhnisch. »Dr. Scheiße höchstpersönlich!« Und das hohe, schrille, spöttische Lachen hallte von den Wänden wider und verlor sich draußen im Flur.
    Sein Jackett war nicht länger weiß, seine Proben zerstört, das Labor verwüstet, und ein ganzer Gebäudeteil stand in Flammen, aber Dr. Kellogg war nicht besiegt, er nicht, noch nicht, von wegen. Er lag den Bruchteil eines Augenblicks da und zog Bilanz: der Geruch war betäubend, die tristen, dem Dunkel entrissenen Geheimnisse der vielen autointoxikierten Gedärme lagen verstreut um ihn herum, in jedem nur vorstellbaren Erdton von Ocker über Ecru zu Pechschwarz – und dann stieß er das Regal von sich, als wäre es aus Papier. Im Nu war er wieder auf den Beinen und zur Tür hinaus, aber niemand war zu sehen. Er stand eine Zeitlang da, wischte sich die Brillengläser an seinem besudelten, ruinierten Jackett ab, seine Hände schwarz vor Dreck und Kot, alle seine Sinne hellwach. Er blutete aus einem Schnitt über dem Auge, und irgendwie hatte er sich die Schulter verrenkt, aber das war nicht der Rede wert. Er hatte jetzt nur ein Ziel, nur ein einziges Ziel, sonst existierte für ihn nichts. Er horchte. Er sah sich um. War George über die Treppe entkommen? Nein, dazu hatte er nicht die Zeit gehabt, und von oben vernahm er das Geräusch von Stimmen, von Schritten, Anzeichen von Bewegung und Hast. Er war hier, verdammt sollte er sein, aber er war hier.
    Erst dann wurde sich der Doktor eines beständigen leisen, rasselnden Geräuschs bewußt, eines Geräuschs, das er bereits seit einer Minute auf niederer Frequenz gehört hatte, ohne es zu registrieren, eines biologischen Geräuschs, des Geräuschs von Luft, rein und raus, von einem rasselnden Kehlkopf ausgestoßen und eingeatmet. Und was war das? Er kannte doch dieses Geräusch! Er sah sich vorsichtig um. Und dann trat aus einer Tür am Ende des Korridors ein Schatten. Geschmeidig, wölfisch, geduckt: Fauna, die reinweiße vegetarische Wölfin. Oder teilweise verfärbte Wölfin, mehr grau als weiß, denn Murphy puderte sie nur für ihre Auftritte – aber wo

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