Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
schlecht behandelt, weil ich dich nicht abgeholt habe und weil ich dich nicht durch die funkelnagelneue Per-Fo-Fabrik führen kann mit den Scharen mustergültiger Arbeiter und dem getäfelten Büro für ihren geschäftsführenden Direktor, an dessen Tür ein kleines Namensschild aus Messing hängt, und ich weiß, daß ich dich in einer erbärmlichen Pension untergebracht habe, während ich hier in Saus und Braus lebe, aber du mußt Geschäftssinn zeigen.« Er hielt inne, um etwas Kies in seine Stimme zu legen. »Wer in dieser Stadt, glaubst du, würde sich auch nur fünf Minuten für uns Zeit nehmen, wenn ich nicht im besten Hotel am Platze wohne und eine Mordsschau vorführe? Hast du dir das schon mal überlegt?«
    Charlie hatte es sich nicht überlegt. Er ließ sich wieder aufs Sofa fallen und betrachtete den Teppich. Er kam sich billig vor, wie ein Abtrünniger, wie ein Quengler und Nörgler, wie das schwache Rädchen im Getriebe, wie jemand, der in einem positiven Unternehmen negativ denkt. Er schämte sich.
    Bender neigte sich zu ihm und legte einen Arm um seine Schulter. »Also, Charlie, ich hab’ dich was gefragt: Du hast doch das Geld mitgebracht, oder?«
     
    Später, viel später – so spät, daß keine Straßenbahn mehr fuhr und die Droschkenkutscher und ihre Mähren längst friedlich in Betten und Ställen wiederkäuten – stolperte Charlie die Treppe bei Mrs. Eyvindsdottir hinauf, schwankte in sein Zimmer und warf sich aufs Bett. Duselig von Benders Brandy, durchgefroren bis ins Mark, die Muskeln in seinen Beinen steif und schmerzend von den sechzig Block, die er insgesamt marschiert war, lag er mit dem Gesicht nach unten auf der Matratze, zu erschöpft, um auch nur den Überzieher auszuziehen. Einen Augenblick lang glaubte er, er befände sich noch im Zug, läge im Bett, das unter ihm schaukelte, das Geräusch von Phantomschienen klang ihm in den Ohren, und dann war er wieder zu Hause, im Pförtnerhaus von Mrs. Hookstratten, umgeben von den Dingen seiner Kindheit und der vertrauten Schlafzimmereinrichtung aus poliertem Ahornholz. Der Schlaf kam über ihn wie ein Lawine.
    Irgendwann in der Nacht – zehn Minuten später, eine Stunde, zwei? – wachte er in der frostigen Dunkelheit auf und hörte ein vollmundiges, kratzendes Husten, hack, hack, hack, und einen Augenblick lang wußte er nicht, wo er war. Instinktiv griff er nach seiner Brieftasche: Mrs. Hookstrattens Geld. Aber dann erinnerte er sich. Er war in Mrs. Eyvindsdottirs Pension in Battle Creek, mitten in der ersten Nacht seines neuen Lebens, des Lebens, in dem er zum Millionär und jedem anderen ebenbürtig werden würde, und es war Mr. Bagwell auf der anderen Seite der Trennwand, der sich die Lunge aus dem Leib hustete, und es war so kalt, daß das Wasser in der Waschschüssel kein Wasser mehr war, sondern ein fester Eisblock. Das Geld war in Sicherheit. Dreitausendachthundertdreiundvierzig Dollar und fünfzehn Cent, abzüglich der fünf Dollar, die ihm Bender für seinen Lebensunterhalt gegeben hatte, lagerten endlich außerhalb der Reichweite von Unfällen, Diebstahl oder Verlust, lagen geschützt im zwei Tonnen schweren Safe des Post Tavern Hotel. Es war eine Erleichterung, sie los zu sein, und eine Erleichterung, endlich hierzusein, ganz am Anfang von etwas, von etwas Großem.
    Aber die Kälte ließ nicht locker – er hätte genausogut im Grab liegen können, so warm war es hier –, und er schlüpfte aus seinen Kleidern und unter die Bettdecke, zog sie über den Kopf, um die einzige Wärmequelle zu nutzen: seinen eigenen Atem. Während er bibbernd dalag, sich auf dem Bett hin und her warf und jede Nuance von Bagwells tödlich nervendem Husten wachsam verfolgte, schien er keine bequeme Lage finden zu können. Selbst nachdem er soweit aufgewärmt war, daß er Minuten am Stück zu zittern aufhörte und Bagwells Husten zu einem schartigen, unregelmäßigen Schnarchen abgeflaut war, konnte Charlie nicht wieder einschlafen. Es lag an der Matratze. Sie schien mit Maiskolben gefüllt zu sein – oder nein, mit irgendeiner Art Papierfüllung, Zeitungen oder Konfetti. Er versuchte es auf der linken Seite, auf der rechten, auf dem Rücken, auf dem Bauch, er versuchte es in Embryo-Haltung, mit angezogenen Beinen, flach auf dem Rücken ausgestreckt. Nichts half. Er lag im Dunkeln, erbittert und hundemüde. Schließlich, als der Ärger die Oberhand über die Geduld gewonnen hatte, setzte er sich im Bett auf, suchte nach einem Streichholz und

Weitere Kostenlose Bücher