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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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die heilenden Kräfte der Natur glaubte und die Notwendigkeit, sommers wie winters in der frischen Luft zu atmen, nicht genug betonen konnte. Schwester Graves versorgte Will mit einer heißen Wärmflasche, und dann wickelte sie ihn mit Hilfe eines männlichen Pflegers – war das Ralph? – so fest in so viele Schichten wollener Decken, daß er glaubte, ihr Gewicht würde ihn zermalmen, setzte ihm eine Schlafmütze auf und rollte ihn hinaus auf die Veranda, wo er auf einen Liegestuhl verfrachtet und so positioniert wurde, daß er in die Sonne sah – beziehungsweise auf die Stelle am Firmament, die die Sonne eingenommen hätte, wäre sie nicht zum Überwintern weiter nach Süden gezogen.
    Will blickte empor zu dem bleiernen Himmel. Ein schwerfälliger grauer Vogel flatterte über den Horizont. Die arktische Luft ließ die Haare in seiner gründlich untersuchten Nase steif werden, versetzte seiner Lunge einen Schock und verursachte einen leichten, aber spürbaren Schmerz in der dünnen Fleischschicht, die seine Backenknochen bedeckte. Soweit er sehen konnte, lag zu beiden Seiten neben ihm eine Phalanx von Patienten in ähnlichen Kokons, die einander ähnelten wie Babys in Strampelanzügen. Er fragte sich, ob sie sich so lächerlich vorkamen wie er, ein erwachsener, rational denkender Mann, der mitten im Winter in Michigan auf einer gefliesten Veranda lag, als befände er sich an einem Strand in Südfrankreich. Unter ihm, auf der gelblichen, steinharten Wiese, taten sich zwei von Dr. Kelloggs Rehen an einem Heuballen gütlich. Trotz allem begann Will, sich schläfrig zu fühlen.
    In diesem Moment wurde er sich einer dünnen, körperlosen Stimme bewußt, die aus der grauen Leere zu ihm sprach. »Hallo«, piepste die Stimme, »schöner Nachmittag, nicht wahr?«
    Es war nicht leicht, eingehüllt in die Decken, wie er war, aber unter großen Mühen schaffte es Will, den Hals zu verrenken und die Gestalt zu seiner Rechten zu betrachten. Er sah eine Schlafmütze, wie er eine aufhatte, eine hervorstehende, tief gefurchte Nase und ein Paar rötlicher geschlossener Augenlider. »Hier drüben«, rief die Stimme und hängte ein Kichern an, »zu Ihrer Linken.«
    Will verrenkte seinen Kopf in die andere Richtung – eine unerwartete eisige Brise attackierte sein freiliegendes Kinn und sandte eiskalte Ströme seinen Hals hinab – und starrte in die gelbliche Brühe von Miss Muntz’ Augen. Zumindest nahm er an, daß diese Augen zu Miss Muntz gehörten – nie zuvor hatte er Augen von dieser Farbe gesehen, wie Hühnersuppe, die über Nacht auf dem Herd eingedickt ist, aber sie standen schließlich über einer ausgesprochen grünlichen Nase. »Miss Muntz?« fragte er vorsichtig.
    Sie antwortete mit einem zweiten, länger anhaltenden Kichern. »Finden Sie das nicht gemütlich?« fragte sie nach einer Weile mit dünner Stimme, der Atem entströmte den Lippen, die aussahen, als wären sie blau geschlagen, und der chartreusefarbenen Nase.
    Gemütlich? Seine Vorstellung von gemütlich bestand aus einem Platz in der Kaminecke eines Gasthauses, einen Teller mit Fleisch und Kartoffeln und ein Glas Bier vor sich, und aus einem Magen, der all das verdauen konnte. Aber er wollte nicht unhöflich sein, und er erinnerte sich an die trotz ihrer grünlichen Schattierung angenehmen Formen von Miss Muntz, an ihr Auftreten und an den Blick, den sie ihm am Abend zuvor im Korridor zugeworfen hatte. Sie logiert nur zwei Türen weiter, dachte er, und erneut durchraste ihn dieses sexuelle Prickeln. »Ja«, sagte er schließlich und bedauerte die Tatsache, daß ihn Mrs. Stover nun schon zweimal ans andere Tischende von Miss Muntz gesetzt und daß dieser Hartjones, dieser iahende Esel, das Tischgespräch so beherrscht hatte, daß er keine zwei Worte mit ihr hatte wechseln können.
    Miss Muntz’ Gesicht hatte plötzlich einen ekstatischen Ausdruck angenommen, ihre Augen funkelten, ein geheimnisvolles Lächeln umspielte ihre Lippen, und sie stieß einen Seufzer kosmischer Zufriedenheit aus, als sie den Kopf nach hinten warf und den Blick über den Himmel, die nackten Bäume, die Rehe auf der Wiese unter ihnen schweifen ließ. Nach einer Weile – eine steife Brise von den eisigen schwarzen Wassern des Lake Michigan erschütterte die Veranda und jagte einen Fetzen Papier gegen die Wand – murmelte sie: »Sind sie nicht süß?«
    »Die Rehe?«
    »Ja. Sie sind so anmutig, so teilhaftig der natürlichen Welt, die wir mit unseren Gewehren und Netzen und

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