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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Zäunen, unseren Straßen und Häusern aus Stein ständig schänden, so … so richtig. «
    Will stimmte ihr aus ganzem Herzen zu, obwohl er nicht umhinkonnte, sie als Propagandaagenten des Bosses zu betrachten und ihm allein schon beim Gedanken an ein saftiges Wildsteak, gewürzt mit einer Prise Thymian und serviert mit pfannengeschmorten Karotten und Zwiebeln, das Wasser im Mund zusammenlief. »Süß, ja, das sind sie«, hörte er sich selbst antworten, aber jetzt, da sie das diskursive Eis gebrochen hatten, konnte er seine Gedanken nicht davon abhalten, zum Morbiden abzuschweifen: Was fehlte ihr? Was genau war Bleichsucht? War sie tödlich? Ansteckend? Er wußte, daß sie nicht über Krankheitssymptome sprechen sollten – der Boss war dem gegenüber äußerst kritisch eingestellt, negative Gedanken und so weiter –, aber die Neugier war stärker als er. Er räusperte sich und holte so tief Atem, daß er es bis hinunter zur Spitze seines Steißbeins spüren konnte. »Äh, Miss Muntz«, setzte er an, »verzeihen Sie die Frage, nur aus reiner Neugier, ich habe mich gerade gefragt, wozu ein junges Mädchen wie Sie, äh, einer Institution wie dieser bedarf – ich meine, ich hoffe, ich bin nicht aufdringlich, aber woran leiden Sie eigentlich?«
    Eine Weile herrschte Schweigen. Schließlich wandte sich Miss Muntz ihm zu, und er sah, daß die Ekstase aus ihrem Gesicht verschwunden war, aufgesaugt von ihren grünlichen Poren wie Tinte von einem Füllfederhalter. »Wir sollen nicht über Symptome reden, wissen Sie, aber ich verzeihe Ihnen, weil Sie neu hier sind. Und weil ich Ihre Augen mag. Und Ihre Nase.«
    Diese Information jagte ihm einen kleinen Schauder ein: Sie mochte seine Augen und seine Nase. Er war ein verheirateter Mann, selbstverständlich, und zudem ein verheirateter Mann, der bis über beide Ohren in seine Frau verliebt war, und die Schmeicheleien keiner anderen Frau konnten ihn wirklich berühren … aber dennoch, da war er, ein kleiner Schauder des Vergnügens.
    »Dr. Kellogg nennt es ›Symptomitis‹. Das letzte, was er will, ist, daß seine Patienten herumsitzen wie eine Schar alter Hühner und sich über ihre Beschwerden austauschen.«
    »Recht hat er. Aber weil Sie meine Augen mögen und meine Nase und weil … Miss Muntz, obwohl ich Sie eben erst kennengelernt habe, muß ich gestehen, daß ich sehr besorgt bin – säßen Sie nicht an meinem Tisch, wäre ich Mrs. Tindermarsh und diesem englischen Schwätzer ausgeliefert –, also, ich will nicht zu dreist sein, aber wollen Sie meine Ängste nicht beschwichtigen? Es ist nichts« – war er zu weit gegangen? –, »nichts allzu Ernstes, nicht wahr?« Will spürte, wie die kalte Luft sein Zahnfleisch betäubte, während er so breit wie möglich lächelte – mit einemmal war es lebenswichtig, entscheidend geworden, daß sie es ihm sagte. Sie waren zwei leidende, verwirrte, ausgenutzte Seelen, die Vertraulichkeiten austauschten, das war alles – und was war da schon dabei? »Bei mir ist es der Magen«, offerierte Will. »Deswegen bin ich hier. Ich kann nicht essen und nicht schlafen. Es fühlt sich an, als ob hundert kleine Minenarbeiter eine Fackelparade dort unten abhalten.«
    Eine hübsche, grünliche Hand hatte sich aus Miss Muntz’ Deckenkokon herausgearbeitet. Sie hob sie an den Mund, um ein weiteres Kichern zu unterdrücken – war der Vergleich so amüsant? Oder sein Leiden? Will wurde rot – er hatte versucht, aufrichtig zu ihr zu sein, oder etwa nicht?
    »Ich habe Bleichsucht«, verkündete sie plötzlich und sah weg. »Das ist eine Anämie. ›Chlorose‹ lautet der offizielle Name dafür. Dr. Kellogg sagt, ich sei ein sehr ernster Fall, aber seine Prognose lautet auf vollständige Heilung – wenn ich mich an die antitoxische Diät halte, natürlich.«
    »Himmel«, sagte Will, »finden Sie das Essen nicht ungenießbar? Ich meine Maisbrei und Protosefilets.«
    Miss Muntz schniefte kurz. »Wenn es mich gesund macht, esse ich alles. Außerdem wurde mir gesagt, daß es das Fleisch war, das mich all die Jahre über vergiftet hat. Meine Mutter ist absolut – also, bei ihr gab’s Pökelfleisch zum Frühstück, Beefsteak zu Mittag und Huhn, Nieren, Koteletts oder so was zum Abendessen. Kein Wunder, daß ich anämisch bin.«
    Will dachte darüber nach, sah das Gespenst einer liebenden Mutter vor sich, die, ohne es zu wollen, ihr eigen Fleisch und Blut vergiftete, als Schwester Graves auftauchte, um seine Wärmflasche auszutauschen und

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