Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Friedensnobelpreisträger vornehmlich in den Kreisen der Geisteselite zuteilwird. Nachdem ihm bereits im Frühsommer drei Dutzend namhafte Autoren von Heinrich Böll über Alexander Mitscherlich bis zu Werner Höfer und Helmut Gollwitzer unter dem Titel «Dieser Mann Brandt …» ein Denkmal in Buchform gesetzt haben, tritt in der heißen Phase der Auseinandersetzung abermals Günter Grass auf den Plan. Mehrere hundert Wählerinitiativen – eine Mobilisierung, wie es sie so zuvor nie gegeben hat – betten den Amtsinhaber in ein bundesweit geknüpftes Netzwerk ein.
Animiert von Publizisten, Künstlern und Wissenschaftlern, beflügelt die vorher eher zurückhaltenden Deutschen eine kaum noch zu überbietende kollektive Bekenntnislust. Angesichts der massenhaft trommelnden «Bürger für Brandt» respektive «Willy-Wähler», die ihre Gesinnung erstmals als Button am Revers tragen, wirkt die Union bisweilen fast hilflos. Daran ändern selbst die von der Industrie finanzierten, pompösen Anzeigenserien wenig, in denen etwa der Marktwirtschaftsguru Ludwig Erhard im Schulterschluss mit dem inzwischen aus der SPD ausgetretenen Karl Schiller vor dem Marsch in den Sozialismus warnt.
Willy Brandt ist der Mann der Stunde, was in seinem Erfolgsstreben auch Herbert Wehner so sieht. Zum Nutzen der Partei lässt der Stratege dem 1969 noch schamhaft in einem Team versteckten Spitzenkandidaten alle nur erdenklichen Freiheiten, und der läuft prompt zur Bestform auf. In einer hochemotionalen Rede erweitert er Anfang Oktober auf dem SPD-Wahlkongress in Dortmund sein Programm um Botschaften, die der neutestamentarischen Bergpredigt entliehen sein könnten. Sein zentraler Begriff heißt «compassion», die «Bereitschaft, mitzuleiden», und die «Fähigkeit, barmherzig zu sein» – wie er den ergriffenen Genossen erklärt, ein in den USA gebräuchliches «Schlüsselwort», in dem sich die politische Leidenschaft der ermordeten Brüder Kennedy gesammelt habe und den er nun dringend den «Bürgern unseres Volkes» empfiehlt.
Bisweilen geraten ihm die Versuche, den diesmal von seiner Partei offensiv vertretenen demokratischen Sozialismus mit christlichen Essenzen zu einer gesellschaftlichen «Neuen Mitte» zu verschmelzen, allzu pathetisch – aber solche gefühligen Einlagen schaden ihm nicht. Je verbissener die Union darauf reagiert und das alte Lied vom unehelichen, trunksüchtigen und vaterlandslosen Internationalisten anstimmt, desto stärker begeistern sich vor allem die linksliberalen Medien für ihn. «Willy Brandt», verklärt ihn etwa der «Spiegel», könne eine Versammlung «heute beinah nach Belieben in eine Art Weihestunde verwandeln». Er rede «fast immer largo, den Ton ganz zurückgenommen», und manchmal gar in der «erhabenen Monotonie der Gregorianik».
Natürlich lässt sich der Kanzler gerne bewundern, doch «die phänomenale Ausstrahlung auf Massen», die ihm selbst der Rivale Helmut Schmidt attestiert, ist keineswegs nur das Produkt einer geschickten Inszenierung. Er wirkt in erster Linie glaubwürdig, und während die SPD in allen Umfragen über längere Zeit stagniert, steigt die Beliebtheit ihres Parteichefs kontinuierlich an. Drei Jahre vorher im Vergleich mit Kurt Georg Kiesinger nahezu hoffnungslos abgeschlagen, wollen ihn schließlich doppelt so viele Bundesbürger im wichtigsten Staatsamt sehen wie den ziemlich konfus wirkenden Herausforderer Rainer Barzel.
Nach seiner Vertrauensfrage in der zweiten Septemberhälfte, mit der er die Neuwahlen bewusst herbeiführt, hält das zunächst einmal kaum jemand für möglich. «Man berichtet mir, die andere Seite fühle sich obenauf», schreibt Brandt unmittelbar vor dem von ihm so bezeichneten «Absprung» in sein Tagebuch und nimmt dabei nicht unbeeindruckt zur Kenntnis, dass die Demoskopen der Union immerhin 49,5 Prozent der Stimmen prophezeien. Was in den kommenden knapp zwei Monaten auf ihn und die Seinen warte, notiert er etwas später mit einem bemerkenswerten Optimismus, werde gewiss «sehr hart, aber es ist zu schaffen».
Der Parteitag in Dortmund scheint tatsächlich die Wende einzuläuten. Die SPD-Granden huldigen ihm zum ersten Mal in seiner Karriere ohne Einschränkung als «Nummer eins» – und sei es nur mit dem Hintergedanken, ihm im Falle einer Niederlage die alleinige Schuld zuzuschieben. Noch wichtiger, als in einer vor Selbstbewusstsein strotzenden Parole die Leistungsbilanz zu feiern («Deutsche, wir können stolz sein auf unser
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