Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
zum Besten. Nachdem die Ostverträge unter Dach und Fach gebracht worden sind, beobachtet der Vorsitzende «Rückschläge in der Wählergunst», und die verstärken sich noch beträchtlich, als im Juli der zusehends auf sich allein gestellte einstige Publikumsliebling Karl Schiller plötzlich von Bord geht. Der in ökonomischen Zusammenhängen wenig instinktsichere Kanzler ist die andauernden Kontroversen an seinem Kabinettstisch leid und trennt sich kurz entschlossen selbst von ihm.
Statt seiner übernimmt der nicht minder schwierige Helmut Schmidt das Doppelressort – doch das lediglich auf der Basis eines Deals, den Brandt rasch bereut. Überstürzt ernennt er den kühl kalkulierenden Hanseaten, der seine Zwangslage auszunutzen versteht, nicht nur zum «ersten Mann» unter den Ministern der SPD und damit praktisch zum Kronprinzen, sondern lässt sich zugleich die Zusage abhandeln, im Falle eines Wahlsieges dessen Konkurrenten, den Kanzleramtschef Horst Ehmke, aus der Schaltzentrale zu entfernen. Ein weiterer «unverzeihlicher Fehler», wie er sich noch im hohen Alter vorwirft.
Eine glückliche Hand hat er in dieser Phase nur selten. Zwar darf er im Juni 1972 auf dem wichtigen Feld der inneren Sicherheit mit der Ergreifung des RAF-Kommandeurs Andreas Baader einen lange ersehnten Fahndungserfolg verbuchen, aber die Genugtuung darüber erledigt sich bald. Anfang September münden die zunächst in aller Welt gepriesenen Olympischen Spiele in München jählings in die Katastrophe, als palästinensische Terroristen die Mannschaft Israels in ihre Gewalt bringen und der stümperhafte, in einem schrecklichen Blutbad endende Befreiungsversuch deutscher Polizisten siebzehn junge Menschen das Leben kostet.
Im Palais Schaumburg fürchten Brandts Getreue unterdessen, dass der Chef wieder mal in Melancholie versinken könnte. In Interviews lässt er selbstkritisch durchblicken, sein Regierungsteam einerseits zu sehr an der langen Leine geführt zu haben, sich andererseits aber nicht mehr ändern zu wollen – und überhaupt: «Mich um jeden Preis an etwas festzuklammern», presst er trotzig zwischen den Lippen hervor, «lag nie in meiner Absicht.»
Meint er das tatsächlich so, oder schwingt da auch Koketterie mit, wenn er sich derart in düsteren Andeutungen ergeht? Selbst Egon Bahr beginnt sich in diesen ereignisreichen Monaten, in denen der sichtlich lustlose Kanzler über den «verrückten» Karl Schiller oder den «scheißfreundlichen» Helmut Schmidt herzieht, auf das Äußerste einzurichten. Er wolle «Schluss machen», erklärt er seinem engsten Mitstreiter, und «den ganzen Kram» endlich hinter sich lassen. «Depression im November kannte ich schon», kommentiert der besorgte Staatssekretär in seinen Memoiren, «im Sommer war sie alarmierend.»
Doch daneben gibt es ja noch den «anderen Brandt», der in wirklich prekären Lagen plötzlich alle Bedrückung «abzuwerfen» imstande ist. Im Einvernehmen mit Walter Scheel schlägt er am 20. September zielstrebig den in seiner Situation einzig erfolgversprechenden Weg ein, der ihm garantiert, die für den 19. November ins Auge gefassten Neuwahlen mit der «Prämie des Machtbesitzes», so sein Presseamtsleiter Conrad Ahlers, anzutreten. Er stellt die Vertrauensfrage, bei der sich seine Minister absprachegemäß der Stimme enthalten, und handelt sich damit kalkuliert jene Niederlage ein, die es dem Bundespräsidenten erlaubt, das Parlament aufzulösen.
Die SPD liegt an jenem Tag in sämtlichen Umfragen gegenüber Barzels Union noch deutlich im Hintertreffen, und mit welchen niedrigen Erwartungen ein Teil der Partei in die entscheidenden Wochen geht, zeigt sich am Beispiel Helmut Schmidts. Der hat schon Ende August in seinem Feriendomizil am holsteinischen Brahmsee eine Gruppe von Genossen des Mitte-rechts-Flügels zu sich eingeladen, um die möglichen Konsequenzen einer drohenden Rückkehr auf die Oppositionsbänke zu diskutieren. Für den Kanzler ist das «ein Akt des Defätismus und der Illoyalität», eine tiefe Enttäuschung, die er danach – wie der seinerzeit bei der eifrigen Kungelrunde anwesende Kollege Hans-Jochen Vogel später festhält – «nicht selten mit Bitterkeit erwähnt».
Seinen trotz mancher Selbstzweifel schwer zu erschütternden Glauben, für die richtige Sache zu Felde zu ziehen, tangiert das aber nicht. Schließlich steht der Verzagtheit vieler Spitzengenossen eine außerordentlich große Ermutigung entgegen, die dem Regierungschef und
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