Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
ihm, dass auch ein neues Kabinett, um sich international nicht gleich zu isolieren, das Arrangement mit den osteuropäischen Staaten und dem DDR-Regime weiterverfolgen müsste, aber natürlich zunächst einmal die am rechtskonservativen Rand rumorenden innerparteilichen Widersacher einzubinden hätte. Deshalb will er die Verträge spürbar «nachbessern».
Als Ouvertüre für den Showdown in Bonn kommt ihm der im März beginnende Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg wie gerufen. Im deutschen Südwesten amtiert seit sechs Jahren eine Große Koalition; nach dem Drehbuch der christdemokratischen Strategen soll dort nun der Boden für die Wachablösung am Rhein dadurch bereitet werden, dass die sozialliberale Regierung erst einmal ihre knappe Bundesratsmehrheit verliert. So sieht sich Willy Brandt seinerseits gezwungen, volle Präsenz zu zeigen und wie einst als Kanzlerkandidat in einem eigens angemieteten Sonderzug in die vorentscheidende Schlacht zu ziehen.
Zwischen Mannheim, Tübingen und Meersburg erleben die Menschen einen SPD-Vorsitzenden, der sich auf bestens besuchten Veranstaltungen zuvörderst seinem Image als Friedensnobelpreisträger verpflichtet zu fühlen scheint. Wo immer er das Wort ergreift, ähneln die Einsätze behutsamen Seelenmassagen, in denen er das Kernstück seiner Arbeit unermüdlich mit dem Gestus des Bittstellers erläutert und auf jede Form von verbaler Kraftmeierei verzichtet – aber dann kann er plötzlich auch anders. In einem Gespräch mit Journalisten genügt ihm eine einzige, eher beiläufig gestellte Frage, ob es ihm nicht zu schaffen mache, dass das Volk seiner Ostpolitik wegen in eine knüppelharte Polarisierung hineintreibe und Neuwahlen auf Bundesebene womöglich unvermeidlich seien, um unversehens aus Haut zu fahren: Wenn es denn tatsächlich darauf hinauslaufe, donnert Willy Brandt mit hochrotem Kopf in die Runde der ihn begleitenden Hauptstadtkorrespondenten, werde sich seine Partei energischer zu wehren wissen als in den «schlappen Jahren» der Weimarer Republik. «Dann wird geholzt bis zur letzten Konsequenz … dann gehen wir auf die Straße, mobilisieren die Betriebe!»
Für einen Staatsmann, der erst wenige Monate zuvor für sein politisches Versöhnungswerk ausgezeichnet worden ist, sind das erstaunlich rüde Sätze. Nur zu gerne nehmen Barzel und Strauß die Chance wahr und malen in einer im Bonner Parlament anberaumten «Aktuellen Stunde» das Gespenst eines unmittelbar bevorstehenden Bürgerkriegs an die Wand, indem sie den ehedem zur linksradikalen Arbeiterpartei abgewanderten Regierungschef empört kaum noch verhüllter revolutionärer Gelüste bezichtigen. Das Kalkül geht zumindest insoweit auf, als die CDU mit ihrer Angstkampagne bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 23. April einen triumphalen Erfolg erzielt.
Willy Brandts Rivale befindet sich, wie es nun aussieht, in der denkbar besten Position: Unmittelbar vor Schließung der Wahllokale im Südwesten der Republik hat der niedersächsische FDP-Hinterbänkler Wilhelm Helms seinen Übertritt in die christdemokratische Fraktion verkündet, und da es sowohl bei den Liberalen als auch in der SPD erklärtermaßen noch mindestens drei weitere potenzielle Dissidenten gibt, wagt der Kandidat den Sprung. Ermuntert von Parteifreunden wie Helmut Kohl, bringt er anderntags seinen Misstrauensantrag ein. Dabei ist er sich seiner Sache so sicher, dass er das Bundespräsidialamt noch vor der Abstimmung darum bittet, die Ernennungsurkunde zu drucken.
So unbestreitbar der Herausforderer nach Recht und Gesetz handelt – was ihm selbst der Amtsinhaber in einer Fernsehansprache bestätigt –, so entrüstet wertet das Gros der Bevölkerung die Aktion als Putsch. Der Beschluss, mit Hilfe von Überläufern oder möglicherweise gar «gekauften» Abgeordneten einen aus demokratischen Wahlen hervorgegangenen Regenten davonzujagen, führt in zahlreichen Städten der Republik zu spontanen Warnstreiks und Protestmärschen. Allein vor der Bonner Beethovenhalle harren in der Nacht zum 27. April, dem Tag der Entscheidung, annähernd fünfundzwanzigtausend Demonstranten im Schein lodernder Pechfackeln aus.
Ist das jetzt tatsächlich das Ende? Im Kanzleramt schätzt man die Lage immerhin als so prekär ein, dass bereits eine Reihe brisanter Papiere im Reißwolf verschwindet und Horst Ehmke seinen Bediensteten die Anordnung erteilt, vorsichtshalber einige Akten für den Abtransport ins SPD-Hauptquartier zu verpacken.
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