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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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darüber hinaus, dass das Bildungsniveau des einstigen «Arbeitervereins» mit dem Zustrom von Akademikern und Gymnasiasten kontinuierlich steigt und bald den des Durchschnitts der Bevölkerung deutlich übertrifft.
    Die nachgewachsene Generation belohnt damit das neben der Westbindung bedeutsamste strategische Projekt der Bundesrepublik, insbesondere aber huldigt das Gros dieser jungen Deutschen dem beinahe schon schwärmerisch umgarnten, vertraut beim Vornamen genannten Regierungschef selbst. Und der genießt den Hype. Gelöster als in jenen Stunden, in denen ihn die Jusos nach seiner Wiederwahl vor dem Kanzlerbungalow in Bonn mit einem nächtlichen Fackelzug feiern, hat man ihn selten erlebt und wird ihn nie mehr erleben.
    Er ist selbstbewusst genug, seinen in dieser Höhe unerwarteten Triumph einer Kombination aus Sachkompetenz und persönlicher Zuneigung zuzurechnen – doch wer wolle, sagt der stolze Hausherr irgendwann leise lächelnd in den Trubel hinein, dürfe das Ganze «auch ein bisschen als Wunder betrachten … dementier’ ich nicht».

[zur Inhaltsübersicht]
    9.
    «Der Herr badet gern lau, so in einem Schaumbad» Krise und Rücktritt
    Unter den zahllosen Gratulanten, die ihm im Laufe des Abends die Ehre erweisen, begrüßt ihn ein Gast aus den Vereinigten Staaten besonders stürmisch. Es ist Edward Kennedy, der einzige noch lebende Bruder des von Willy Brandt überaus geschätzten ehemaligen US-Präsidenten, der sich zu einer Tagung der Nordatlantischen Versammlung in der Bundeshauptstadt aufhält und den Wahlsieger nun in der ihm eigenen jovialen Art seiner Frau Joan vorstellt. Er liebe Gewinner, strahlt der Senator aus Massachusetts – und dieser hier sei «the greatest man».
    Bei aller Freude darüber, erzählt der Kanzler später, habe er solche und ähnliche Nettigkeiten auch mit eher gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen. Umringt von Kollegen und Schlachtenbummlern, beschleicht ihn schon damals eine den künftigen Ereignissen vorauseilende ungute Ahnung, die er alsbald bestätigt finden und in seinen Memoiren näher beschreiben wird. «Der deutschen Sozialdemokratie ist eine Tradition angeboren», liest der Autor da seiner Partei merklich enttäuscht die Leviten, «in der der Misserfolg moralisch in Ordnung geht und der Maßstab des Erfolges einen anrüchigen Beigeschmack hat.»
    Doch damals plagen ihn zunächst einmal andere Sorgen. Seit Ende September weiß er, dass eine Stimmbänderentzündung, die ihm bereits längere Zeit zu schaffen macht, von einem möglicherweise gefährlichen, sogenannten Sängerknoten herrührt. Die Diagnose versetzt ihn in Krebsangst, und da ihm die Ärzte nicht verhehlen, dass sich die Geschwulst zumindest «an der Grenze zur Bösartigkeit» bewegt, muss er sofort operiert werden.
    Der Kanzler verabschiedet sich mit dem Hinweis in die Klinik, die Gespräche über das zweite sozialliberale Kabinett vom Krankenbett aus lenken zu wollen, darf aber nach einem letztlich lebensbedrohlichen Eingriff kaum den Mund aufmachen. Diese Gelegenheit nutzen Herbert Wehner und Helmut Schmidt, die Regie zu übernehmen. Beide glauben sich dazu berufen, dem ihrer Meinung nach flüchtigen Zauderer konsequentes Handeln vorzuführen, und drängen ihn deshalb kaltblütig ins Abseits.
    Im Schulterschluss mit dem Fraktionsvorsitzenden, der sich nicht scheut, mehrere ihm schriftlich überbrachte Brandt-Direktiven einfach in einer seiner legendären dicken Aktentaschen verschwinden zu lassen, werkelt der Chef des wieder eigenständigen Finanzministeriums unverblümt an seiner Karriere. Dem ohnehin schon einflussreichen Ressort werden die Fachgebiete Konjunktur und Währung zugeschlagen, während Horst Ehmke und Egon Bahr ihre Schlüsselpositionen verlieren. Das zunehmend komplizierte Dreiecksverhältnis an der Parteispitze verschiebt sich damit eindeutig zuungunsten des Kanzlers.
    Folglich fühlt sich der noch drei Wochen zuvor angehimmelte Rekonvaleszent, als er Anfang Dezember erstmals zur Koalitionsrunde stößt, mit einigem Recht ziemlich schnöde behandelt. Gezielte Indiskretionen haben zudem dafür gesorgt, dass die im Rekordtempo festgeklopften Vereinbarungen der Öffentlichkeit bekannt geworden sind, also lediglich noch um den Preis eines Eklats zu korrigieren wären – für Willy Brandt undenkbar. Mit der Fähigkeit, «hart gegen Menschen zu sein», sei er nun leider mal «nicht gesegnet», entschuldigt er später seine Skrupel und lässt die ihm «unbegreiflich illoyalen

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