Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Land»), ist für sie der schlichte und fast schon in der Manier eines kategorischen Imperativs ganz auf die entscheidende Person konzentrierte Slogan, der an die glorreichsten Zeiten der Ära Konrad Adenauers erinnert: «Willy Brandt muss Kanzler bleiben.»
Der kurz zuvor noch besorgniserregend apathische Spitzengenosse blüht nun mächtig auf. In keiner Phase seiner Regentschaft, wird er in der Rückschau schwärmen, sei er mit sich und seinen Vorstellungen mehr im Einklang gewesen als in jenen Wochen, in denen sein immer gleiches strahlendes Konterfei – ein Bild, das die Sekretärinnen des Bundesgeschäftsführers Holger Börner für ihn ausgesucht haben – von Zigtausenden Plakaten grüßt.
Der Melancholiker in der Rolle des Muntermachers – «kein Jäger, ein Fänger», wie ihn Horst Ehmke wohl zutreffend beschreibt –, der den Wählern zudem als ein in Jahrzehnten gestählter Profi gegenübertritt: Angetrieben vom festen Willen, in einer ihm aufgezwungenen Schlacht den restaurativen Kräften im Lande die Stirn zu bieten, ist er unermüdlich unterwegs und geht dabei erneut nicht selten bis an die Grenze seines körperlichen Vermögens. In der Schlussphase, in der er es täglich auf ein halbes Dutzend Großkundgebungen bringt, verschlägt es dem Kettenraucher häufig buchstäblich die Sprache, aber er hält eisern durch.
Als hilfreich erweist sich dabei, dass sich seine ursprüngliche Befürchtung, mit den Ostinitiativen womöglich keine hinreichende Resonanz mehr erzeugen zu können, nicht bestätigt. Die «eigentliche Vertrauensfrage», wie er sie in seinem Tagebuch nennt, nimmt den überwiegenden Teil der Bevölkerung immer noch weit stärker gefangen als jedes andere aktuelle Problem. Unter den Bundesbürgern scheint es ein verbreitetes Bedürfnis zu geben, den von Überläufern und reaktionären Scharfmachern gebeutelten Brandt endlich mit der stabilen Machtbasis auszustatten, die sein Friedenswerk verdient.
Darüber hinaus beflügeln ihn die Fortschritte bei den längere Zeit vor sich hin dümpelnden deutsch-deutschen Kontakten. Mitte Juni 1972 haben Egon Bahr und der Ostberliner Emissär Michael Kohl die Verhandlungen über den Grundlagenvertrag wiederaufgenommen – eine Voraussetzung für die Mitgliedschaft beider Staaten in der UNO – und schaffen tatsächlich den Durchbruch. Für das Zugeständnis des SED-Regimes, die «nationale Frage unseres Vaterlandes noch als ungelöst» hinzunehmen, respektiert die Koalition um der menschlichen Erleichterungen willen den zwischen der Bundesrepublik und der DDR herrschenden juristischen und territorialen Status quo.
Dass sich Rainer Barzel weigert, das am 8. November paraphierte Abkommen im Fall seines Sieges anzuerkennen, bringt dem Amtsinhaber allein schon deshalb zusätzliche Pluspunkte, weil sich seine den Realitäten verhaftete Politik auch auf einem anderen Feld in konkreten Ergebnissen niederzuschlagen beginnt: Offenkundig gezielt zum Wahltag lässt Leonid Breschnew, der dem Bonner Kanzler seit dem Treffen von Oreanda sichtlich gewogen ist, unvermittelt dreitausend Sowjetbürger deutscher Abstammung in den Westen ausreisen.
Wie es fünfzehn Jahre vorher Konrad Adenauer gelungen war, als Gegenleistung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Moskau die letzten Kriegsgefangenen loszueisen, darf sich nun Willy Brandt mit der Heimkehr der Nachfahren ehemaliger Auswanderer schmücken. Und natürlich gereicht ihm das rundum positive Echo darauf in den bewegenden Tagen des Herbstes 1972 ganz persönlich zum Vorteil. Immer öfter bestaunen ihn nach der Beobachtung eines Reporters der «Süddeutschen Zeitung» euphorisierte Anhänger wie ein «von der Aura der Geschichtlichkeit umstrahltes Denkmal».
Nach seinem grandiosen Sieg bei der Bundestagswahl 1972 tritt Willy Brandt mit Wahlhelfer Günter Grass und Koalitionspartner Walter Scheel in Bonn vor das Palais Schaumburg.
Wenn die Sozialdemokraten am 19. November mit 45,8 Prozent der Zweitstimmen zum ersten Mal als stärkste Fraktion in den Bundestag einziehen, verdanken sie das außer den Frauen vor allem der Herabsetzung des Wahlalters auf achtzehn Jahre. Von den dadurch hinzugekommenen knapp zweieinhalb Millionen Erstwählern votieren doppelt so viele für Brandt wie für den Unionskandidaten. Nach der Feinanalyse der Einzelergebnisse ist die vom SPD-Vorsitzenden ehedem befürchtete und häufig angeprangerte Vergreisung der SPD jedenfalls kein Thema mehr. Bezahlt macht sich für ihn
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