Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
Vom Netzwerk:
Derweilen schwingt sich Walter Scheel im Plenarsaal erregt wie nie zu einer seiner größten Reden auf, in der er leidenschaftlich vor einem «schäbigen Spiel» warnt, das «den Nerv dieser Demokratie» treffe und in dem eine «vom Makel des Wortbruchs gekennzeichnete» neue Regierung den Wähler verhöhne. Willy Brandt dagegen hält sich betont zurück. Er sei überzeugt davon, sagt er seltsam zuversichtlich wirkend, den Umsturzversuch abwehren zu können – ein «innerer Anruf», formuliert er im Nachhinein etwas sibyllinisch, habe ihm signalisiert, mit «Beistand von der Gegenseite rechnen zu dürfen».

    Demonstranten protestieren 1972 gegen den Versuch Rainer Barzels, Willy Brandt durch ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen.
    Dass ihn schließlich sehr viel handfestere Motive retten als die Kraft von Argumenten, auf die der Kabinettsherr offenbar vertraut, ahnen weder er noch Rainer Barzel. Die wenig appetitlichen Hintergründe für das Scheitern des CDU-Matadors, der sein Ziel um zwei Stimmen verfehlt, werden in Umrissen erst ein knappes Jahr später erkennbar und entlarven die SPD, die sich den Deutschen bis dahin in der reinen Opferrolle präsentiert hatte, als bedenkenlose Mittäter. In den Skandal um gekaufte Volksvertreter persönlich verwickelt gewesen zu sein, wirft der blamierte Christdemokrat dem mit großer Wahrscheinlichkeit unbeteiligten Kanzler allerdings auch dann nicht vor.
    An diesem Nachmittag, dem vielleicht spannendsten, den die ungemein politisierte Öffentlichkeit je erlebte, liegen sich die Koalitionäre zunächst einmal in den Armen, doch die triste Wirklichkeit holt sie rasch wieder ein. Schon knapp vierundzwanzig Stunden nach dem gescheiterten Misstrauensvotum muss das Bündnis bei der Schlussabstimmung über den schwierigen Bundeshaushalt 1972 mit einem Patt vorliebnehmen, hat seine Regierungsbasis also endgültig verloren.
    Das ist für Brandt umso misslicher, als die Ratifizierung der Ostverträge im Parlament noch aussteht. Weil er verhindern möchte, seine Herzensangelegenheit mit der Vertrauensfrage zu verbinden – und dabei womöglich doch noch gestürzt zu werden –, beginnt nun der dritte Akt des Dramas. Der Kräftegleichstand erlegt ihm auf, den mühsam ausgehandelten Abkommen mit Moskau und Warschau eine in allen Parteien gebilligte Resolution voranzustellen. Nach einem wochenlangen, von den Sowjets mit bemerkenswerter Geduld hingenommenen Gezerre, in dem es in einem den Dokumenten beigegebenen Brief erneut um das prinzipielle Recht auf Selbstbestimmung der deutschen Nation geht, flüchten sich die Abgeordneten der CDU und CSU schließlich mehrheitlich in die Enthaltung.
    So erfüllt sich für den Kanzler wenigstens ein Teil seiner Träume. Obschon für ihn die letztlich überflüssigen Wortklaubereien, wie er es noch in der Retrospektive bedauert, «hart an der Grenze dessen lagen, was ich in der Abwehr von Illusionen verantworten konnte», hat er das erste wichtige Etappenziel erreicht, und die einstigen Kriegsgegner lösen ihr Versprechen ein. Dem Austausch der Urkunden mit der UdSSR und Polen folgen kurz darauf das Viermächteabkommen, das den lange umkämpften Status Berlins stabilisiert, und in dessen Rahmen eine deutsch-deutsche «Zusatzvereinbarung» über den lebensnotwendigen Transitverkehr.
    Fehlt als Krönung nun nur noch der «Schlussstein» – jener von Brandt, Bahr und Scheel angestrebte und in Entwürfen bereits skizzierte Grundlagenvertrag mit der DDR, den die Koalition umso entschiedener voranzutreiben gedenkt, als sie zu Recht um ihren Bestand fürchten muss. Denn dass an Neuwahlen kein Weg mehr vorbeiführt, ist nach dem Patt im Bundestag, das der Bonner Regierung innenpolitisch praktisch jeden Spielraum raubt, allen Parteien klar.
    Mit seinen entspannungspolitischen Erträgen im Rücken neigt der SPD-Vorsitzende dazu, die Deutschen bald abstimmen zu lassen, aber die Ängste seines liberalen Partners, der nach den herben Verlusten in Baden-Württemberg den Termin so weit wie möglich hinausschieben möchte, hindern ihn daran. Rainer Barzel wiederum pocht darauf, dass ein offenkundig handlungsunfähiger Kanzler sein Amt zur Verfügung zu stellen habe; zur Durchsetzung dieses plausiblen Verlangens fehlen ihm nach der Verfassung freilich die Instrumente.
    Die Initiative liegt deshalb bei den Sozialdemokraten – allerdings steht es um deren Chancen, die Führungsrolle auch in der nächsten Legislaturperiode behaupten zu können, nicht gerade

Weitere Kostenlose Bücher