Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Turnschuhen präsentieren darf –, ist nicht zuletzt seiner stillen Fürsprache zu verdanken.
Das aufsehenerregende rot-grüne «Projekt» findet freilich schon bald ein jähes Ende. Der Konflikt um eine in Hanau angesiedelte Plutoniumfabrik, die die Genossen unbedingt erhalten, Fischer und Co. aber ebenso entschieden schließen wollen, entzieht dem Bündnis bereits nach anderthalb Jahren die ohnedies brüchige Basis. Das von Brandt mit heimlichem Interesse verfolgte Experiment hat sich damit erst einmal erledigt, und der Sozialdemokratie steht das bevor, was ihr Bundesvorsitzender glaubte möglichst zügig überwinden zu können – eine öde Zeit der strategischen Perspektivlosigkeit.
Die SPD krankt in der Folge deshalb nicht nur daran, dass ihr mit dem Schwenk der Liberalen ins bürgerliche Lager der Partner fehlt, sie ist intern auch zutiefst darüber zerstritten, auf welchem Weg ihr die Rückkehr an die Macht gelingen kann. In seiner ganzen Schärfe entlarvt sich das Dilemma im Vorfeld der Bundestagswahlen von 1987, als ihr Spitzenkandidat Johannes Rau stur auf die absolute Mehrheit setzt und damit den Spott des Parteichefs auf sich zieht. Der lässt in einem Interview leicht süffisant durchblicken, dass sich der Kollege aus Nordrhein-Westfalen vermutlich in ein «Luftschloss» hineinträume, um dann seinerseits die Erwartungen deutlich herunterzuschrauben: «Dreiundvierzig Prozent wären auch ein schönes Ergebnis.»
Am Ende sind es gerade mal siebenunddreißig – ein Resultat, das noch sehr viel bescheidener ausfällt als jenes des Genossen Hans-Jochen Vogel vom Frühjahr 1983 nach dem Abgang Helmut Schmidts. Doch obschon sich der Vorsitzende im Recht fühlen darf, beginnt nun eine enorm frustrierte innerparteiliche Opposition mit ihm zu hadern. Anstatt sich seiner in immer unverblümteren Andeutungen vertretenen Auffassung anzuschließen, dass die Sozialdemokraten die Regierungsbänke für sich nur zurückerobern könnten, wenn sie die mittlerweile im Bonner Parlamentsbetrieb einigermaßen etablierten Grünen nicht weiter ausgrenzten, empfinden die Genossen solche Äußerungen als illoyal oder gar Dolchstoß.
Ein wachsender Teil der SPD tut sich erkennbar schwer damit, ihren seit 1964 amtierenden Übervater noch zu verstehen – und dem geht es umgekehrt genauso. Wie weit man sich mittlerweile gegenseitig entfremdet hat, zeigt sich bereits wenige Wochen nach dem Wahldebakel, als Brandt für seinen zurückgetretenen Pressesprecher, den Rau-Intimus Wolfgang Clement, Ersatz sucht. Um der Führungsetage zu einem moderneren Image zu verhelfen, will er den Bundesvorstand dazu bewegen, die dreißigjährige Margarita Mathiopoulos auf diesen Posten zu berufen – eine ebenso attraktive wie eloquente Historikerin –, deren Vita allerdings aus dem Rahmen fällt. Die in Bonn geborene parteilose Tochter eines griechischen Journalisten und Verlobte des christdemokratischen Newcomers Friedbert Pflüger hat mit einem Stipendium der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung studiert und ist eindeutig dem konservativ-liberalen Milieu zuzurechnen.
Dass sich der nicht zuletzt von Brigitte Seebacher ermunterte Vorsitzende traut, den traditionell auf «Stallgeruch» erpichten Genossen eine Frau mit solchem Hintergrund zuzumuten, treibt große Teile der SPD auf die Barrikaden. Versteinert muss er zusehen, wie der Vorschlag bereits im Präsidium mehrheitlich abgeblockt wird; von der empörten Basis ganz zu schweigen. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Briefe, die ihn in ihrer Fremdenfeindlichkeit derart erschrecken, dass er den Kritikern, wie sich Horst Ehmke erinnert, vehement «nationale Engstirnigkeit» vorwirft.
«Mancherorts», entrüstet sich der Kosmopolit noch in seinen Memoiren, «verbreitete sich Mief» – eine Kleinkariertheit, mit der er sich in diesem trüben Frühsommer 1987 nicht mehr herumquälen will und die ihn bei seiner eh schon seit längerem schwelenden Amtsmüdigkeit zu einem spontanen Entschluss herausfordert. «Wenn aus einer Personalfrage», lässt er den Bundesvorstand wissen, «eine Haupt- und Staatsaffäre wird und eine einflussreiche Minderheit von Mandatsträgern ausschert, dann ist es in meinem Dienstalter an der Zeit, die Seite umzuschlagen.»
Die vielen schönen Worte und schier endlosen stehenden Ovationen können auf einem Sonderparteitag im Juni schwerlich darüber hinwegtäuschen, dass er den Abschied als bitter empfindet. In einer eindringlichen, zweistündigen Rede listet der
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