Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
sichtlich gekränkte Brandt nicht nur auf, was ihm unter den Schlüsselbegriffen «Frieden», «Freiheit» und «Entspannung» unerlässlich erscheint, er verteidigt auch ausgiebig seinen oft gescholtenen sanften Führungsstil: An einer «teutonischen Pseudoautorität» sei ihm genauso wenig gelegen gewesen, wie der Forderung zu entsprechen, die SPD «zur geschlossenen Anstalt» umzubauen.
Die Partei, die sich von seinem Rückzug allenfalls noch pflichtgemäß enttäuscht zeigt, ernennt ihn danach zu ihrem Ehrenvorsitzenden, eine Funktion, die dem scheidenden Chef den Zutritt zu den Konferenzen sämtlicher Beschlussfassungsgremien ermöglicht, ihn aber kaum interessiert. Lieber pflegt er von seinem Büro im Bonner Bundeshaus aus die Kontakte zur Sozialistischen Internationale, hält Vorträge über das wachsende Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd oder zieht sich wochenlang ins französische Ferienhaus zurück. Er habe die Distanz zum Funktionärsapparat, wird seine Frau nach seinem Tod behaupten, als «Akt der Selbstbefreiung» erlebt.
Detailliert beschreibt die Publizistin in ihrer 2004 veröffentlichten opulenten Retrospektive auf «W. B.», wie sehr sich der Ehemann bereits ab Mitte der Achtziger über die Unzulänglichkeiten in den oberen Etagen der SPD mokiert habe, und bekräftigt damit, was seinerzeit immer wieder mal auch in Journalistenkreisen herumgereicht wird. Sooft ihm danach zumute ist, macht der agile «Alte» in Hintergrundgesprächen aus seiner Verärgerung über die vermeintliche «Selbstgenügsamkeit und fehlende Siegesperspektive» des vom Nachfolger Hans-Jochen Vogel und Johannes Rau gebildeten neuen Spitzenduos keinen Hehl. Doch kaum minder irritieren ihn nun selbst die «Enkel», die sich um Björn Engholm oder Gerhard Schröder und vor allem Oskar Lafontaine scharen.
Schließlich fällt sein Rücktritt mit bemerkenswerten Entwicklungen zusammen. In Moskau ist nach dem Ableben Juri Andropows die Ära der sowjetischen Betonköpfe zu Ende gegangen und in der Person Michail Gorbatschows im März 1985 ein Reformer auf der Bildfläche erschienen, der zunehmend die Schlagzeilen beherrscht. Zwar sieht auch Brandt die danach in immer schnellerer Abfolge einsetzenden Umschwünge im Verhältnis der Supermächte nicht voraus, erkennt aber mit seinem Sensorium für die Veränderung politischer Großwetterlagen den grundlegenden Wandel in der östlichen Hemisphäre und lastet deshalb der nachwachsenden Führungsgeneration seiner Partei an, ignorant auf Westeuropa fixiert zu sein.
Er selbst sucht die Nähe des neuen starken Mannes im Kreml schon kurz nach dessen Wahl – und damit unter den in der Bundesrepublik maßgeblichen Politikern früher als alle anderen. Dem ersten Treffen mit dem, wie er auf Anhieb urteilt, «ungewöhnlich kompetenten, problembewussten, zielstrebigen und zugleich geschmeidigen Gesprächspartner» schließen sich 1988 und 1989 zwei weitere an, die die inzwischen bisweilen zur diplomatischen Routine heruntergekommene Ostpolitik spürbar beleben. Von niemandem habe er «mehr gelernt», wird ihm der Russe in den neunziger Jahren seinerseits nachrufen, als von diesem eindrucksvollen deutschen Sozialdemokraten.
Aber widerlegt ihn die ab Dezember 1987 zu registrierende stürmische Entwicklung nicht auch? Da einigt sich der Generalsekretär mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan in Washington darauf, in Europa sämtliche nuklearen Systeme mittlerer und kürzerer Reichweite zu verschrotten – für die Verfechter des Nato-Doppelbeschlusses und allen voran dessen Spiritus Rector Helmut Schmidt eine späte Genugtuung. Selbst ursprünglich scharfe Kritiker leisten dem vielgeschmähten «Raketenkanzler» nach dem historischen Triumph scharenweise Abbitte.
Für Willy Brandt ist die bahnbrechende Übereinkunft allerdings kein Grund, an seiner Marschroute zu zweifeln. Beim Wettlauf um die Produktion und Stationierung immer verrückterer Massenvernichtungswaffen von der generellen Unbeweglichkeit der Supermächte ausgegangen zu sein, kommentiert der SPD-Ehrenvorsitzende eher lapidar, habe sich «Gott sei Dank als irrig» erwiesen, doch hält er nach wie vor und wohl mit einigem Recht die Behauptung für «abwegig», dass das glückliche Ende des jahrelangen Ringens allein auf das Beharrungsvermögen des Westens zurückzuführen sei.
Um die Rüstungsspirale zu durchbrechen, benötigte die westliche Allianz schließlich jenseits des Eisernen Vorhangs einen kompromissbereiten Partner wie
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