Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Gorbatschow, dessen zunächst schwindelerregende Karriere – so bestätigt es mit Valentin Falin jedenfalls einer der engsten Weggefährten des Generalsekretärs – ohne die Ostpolitik der sozialliberalen Bonner Koalition kaum möglich gewesen wäre. Mithin sei der Anteil des Brandt’schen Entspannungskonzepts an der militärtechnischen «Null-Lösung» gar nicht hoch genug zu bewerten, und die unterschiedlichen, über Jahre hinweg vermeintlich inkompatiblen Strategien der beiden Altkanzler hätten sich letztlich ungewollt ergänzt.
Außerdem ist der von der Wirklichkeit scheinbar ins Unrecht gesetzte erste sozialdemokratische Regierungschef ein sehr viel größerer Realist, als es seinem Image entspricht. Während die SPD-Grundwertekommission noch im August 1987 mit Erich Honeckers SED ein gemeinsames Positionspapier verabschiedet, das die Umgangsformen in zivilere Bahnen lenken soll, denkt Willy Brandt bereits weiter. Über den Theoriestreit zwischen seiner und der Sozialistischen Einheitspartei, vertraut er Freunden an, habe für ihn «die Geschichte entschieden – er lohnt nicht mehr».
Stattdessen ist ihm in der Zeit der sich abzeichnenden deutsch-deutschen Wende daran gelegen, seinen Landsleuten die «Scheu vor veränderten Daten und Perspektiven» zu nehmen. Nachdem die Ungarn Anfang Mai 1989 ein erstes Loch in den Drahtverhau zwischen Ost und West geschnitten haben und die DDR bald darauf zu wanken beginnt, gibt er in jedem der folgenden Monate deutlicher zu Protokoll, mit welchen Umbrüchen er rechnet: «Die Zeit, in der es sich in unserem Verhältnis zum anderen deutschen Staat vor allem darum handelte, durch vielerlei kleine Schritte den Zusammenhalt der getrennten Familien und damit der Nation wahren zu helfen», prophezeit er Anfang September im Bundestag, gehe seiner Einschätzung nach «zu Ende».
In keiner Phase seines politischen Wirkens entfaltet sich die visionäre Kraft Willy Brandts stärker als im Sommer jenes Jahres. So hängt er dem Manuskript seiner gerade abgeschlossenen Memoiren eine spektakuläre «Nachschrift» an, in der er ohne Umschweife einen Blick in die Zukunft wagt: «Warum, mit welchem Recht und aufgrund welcher Erfahrung ausschließen, dass eines Tages in Leipzig und Dresden, in Magdeburg und Schwerin – und in Ostberlin – nicht Hunderte, sondern Hunderttausende auf den Beinen sind …?» Schon sechs Wochen später wird sich diese kühne Prognose mit den legendären «Montagsdemonstrationen» bewahrheiten.
Aber welche Schlüsse zieht man daraus? Nach dem Fall der Mauer und der Zusicherung Gorbatschows, allen Völkern der Welt sei prinzipiell das Recht der freien Selbstbestimmung zuzugestehen, lässt den Altkanzler die nun erstmals in aller Vorsicht ganz praktisch thematisierte «deutsche Frage» nicht mehr los. Dass die in der Bundesrepublik und der DDR lebenden Menschen «zusammenfinden» würden – «in welcher Form auch immer» –, hält er bereits für ausgemacht, doch in seiner eher uninspirierten Partei gerät er mit dieser Position zusehends ins Abseits.
Dem Gros der sozialdemokratischen Spitzenfunktionäre und zumal den «Enkeln» um den inzwischen zum Kanzlerkandidaten gekürten Oskar Lafontaine ist alles suspekt, was nach Einheit klingt, und sie geben das auch öffentlich klar zu verstehen. An die Wiederherstellung eines Nationalstaats, wird der Ehrenvorsitzende insbesondere von den tonangebenden jüngeren Führungskräften der SPD ungeniert unter Beschuss genommen, sei allenfalls am Ende eines europäischen Einigungsprozesses zu denken.
Derweilen bereist der mittlerweile sechsundsiebzigjährige Politveteran aufgewühlt die Bezirke der DDR und entwickelt vor Tausenden begeisterter Zuhörer seine Vorstellungen von einer «neuen Art deutschem Bund». Vor der Marienkirche in Rostock präsentiert er sich schon Anfang Dezember einer unübersehbaren Menschenmenge sentimental als «von den Wurzeln her Mecklenburger» und lässt von da an keine sich bietende Gelegenheit aus, um in Gotha, Eisenach oder Dresden eine gemeinsame Zukunft zu beschwören. Den Höhepunkt bildet im März 1990 ein spektakulärer Auftritt in Erfurt, wo er dasselbe Zimmer bezieht wie zwei Jahrzehnte vorher beim Treffen mit Stoph.
Er kommt im buchstäblichen Sinne des Wortes in einem wie immer noch zu gestaltenden «Vaterland» an, doch welche Schwierigkeiten die SPD damit hat, angesichts der Auflösungserscheinungen im Osten ein halbwegs geschlossenes Konzept zu erarbeiten, zeigt sich in
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