Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Suchender» gewesen – vermutlich eine etwas verkürzte, aber im Sinne des nun unaufhaltsamen Umorientierungsprozesses offenkundig zutreffende Behauptung. Bereits zu Jahresbeginn 1938 irritiert er die SAP mit einem Rundbrief, in dem er als Vorsitzender des SJVD «entschlossen und klar das Ziel der Verschmelzung mit den aktiven sozialdemokratischen Kräften» ins Auge fasst, und bald darauf trifft er sich zweimal mit Erich Ollenhauer, dem Chef der Exil-SPD. Die beiden Genossen, die in der Nachkriegsrepublik dreieinhalb Jahrzehnte die Geschicke der Partei lenken werden, beraten über den Plan, ihre Jugendorganisationen zusammenzuführen.
Je eindeutiger er sich von einem übersteigerten Dogmatismus zu entfernen beginnt, desto mehr wächst seine Distanz zu Jacob Walcher. Dessen Idee, den Nationalsozialisten mit einem breiten Bündnis einschließlich der moskautreuen Kommunisten zu Leibe zu rücken, stößt bei Brandt zusehends auf Skepsis. Bissig bespöttelt er das Netzwerk des ehrbaren, im Kern seines Wesens aber unpolitischen Heinrich Mann als «Volksfront ohne Volk» – und nach der letzten, maßlosen Enttäuschung, die ihm der 1939 zwischen Stalin und Hitler geschlossene Nichtangriffspakt bereitet, schilt er sich selbst als Träumer: «Zu meinen, mit KP-Leuten um Walter Ulbricht gemeinsame Sache machen zu können», habe mit einer wirklichkeitsnahen Einschätzung der Lage nur wenig zu tun gehabt.
Umso mehr findet der vorher emsige Klassenkämpfer, der in Oslo als Sekretär einer gewerkschaftlichen Hilfsorganisation unter anderem spanische Bürgerkriegsopfer betreut, am Reformismus der regierenden NAP Gefallen. Die Arbeiterbewegung skandinavischer Prägung wird ihm so sehr zur politischen und sozialen Heimat, dass ihm seine Gegenspieler in der SAP Opportunismus vorwerfen. Er gilt als eigenwillig und selbstherrlich – aber mit gerade mal fünfundzwanzig Jahren auch als Führungsfigur.
Und er versteht sich zunehmend als Norweger. Dass ihn ein Gestapo-Spitzel im Mai 1937 in Paris enttarnt hat und ihm die Nationalsozialisten, wie es der Reichsanzeiger vermeldet, im September 1938 die deutsche Staatsangehörigkeit aberkennen, empfindet der erstaunlich lange unentdeckt gebliebene Willy Brandt kaum noch als Schlag. Zwar liegt ihm das Schicksal seines Geburtslandes nach wie vor am Herzen, aber wie könnte sich seine Bedeutung im Widerstand besser unterstreichen lassen, als von einem Verbrecherregime aus der «Volksgemeinschaft» ausgeschlossen und für vogelfrei erklärt zu werden. Einen maßgeblichen Anteil daran, dass es ihm trotz der politischen Wirren «so gut wie selten» geht, haben auch tiefgreifende Einschnitte in seinem Privatleben. Im Frühling 1939 verlässt Gertrude Meyer, seine treue Gefährtin und «Ehefrau» Gunnar Gaaslands, die bis dahin gemeinsame Wohnung. Bei allem weltanschaulichen Gleichklang ist man privat mehr und mehr getrennte Wege gegangen, und die Lübecker Jugendfreundin zieht es nun in die USA: Sie folgt dem Sexualwissenschaftler Wilhelm Reich, für den sie bereits seit längerem arbeitet, an die New Yorker Columbia-Universität.
Zugleich will es der Zufall, dass er in dieser Zeit die Soziologin Anna Carlota Thorkildsen wiedertrifft, die ihm erstmals bei «Mot Dag» begegnet ist. Von Kindesbeinen an engagierte Sozialistin, jobbt die Tochter eines norwegischen Ingenieurs und einer Deutschamerikanerin als Sekretärin im Osloer Institut für vergleichende Kulturforschung – wie der um neun Jahre jüngere Willy Brandt schwärmt, eine selbstbewusste, «gestandene» Frau. «In der Flut der sich überstürzenden Ereignisse», im September 1939 lässt Hitler Polen überfallen, sehnt er sich zunehmend nach einem «gewissen Halt», und die beiden verloben sich prompt.
Andererseits haben die ersten Monate des Zweiten Weltkriegs für ihn auch «etwas Unwirkliches»: «Sie waren», schreibt er ein bisschen pathetisch, «wie die weißen Nächte des Spätsommers dort oben im Norden: Die Nerven sind aufs äußerste gespannt, eine merkwürdige Unruhe erfüllt einen, die Rastlosigkeit ist wie Gift im Blut, und gleichzeitig fühlt man sich wie gelähmt, einem dumpfen Fatalismus ausgeliefert.»
Gleichwohl kommt er als Politiker und Journalist seinen zahlreichen Verpflichtungen nach. Er hält Vorträge und feilt an seinem ersten umfänglichen Buchprojekt, einem Essay über die «Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa», in dem er die möglichen Szenarien gegeneinander abwägt und keinen Zweifel
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