Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
die in ihrer Heimat gegen das Vichy-Regime aufbegehrten – an deren lobenswert «patriotischer Gesinnung» gibt es für ihn indessen keinen Zweifel. Und so sieht er sich, als die Wehrmacht sein friedliches Gastland überrennt, in einer ganz ähnlichen Rolle. Er ist froh, im Widerstand gegen die Nazi-Barbarei nicht «alle Mittel» einsetzen zu müssen, versteht sich «im übertragenen Sinne» aber durchaus als «Kriegführender». Hitlers Hegemonialanspruch zu untergraben, wo immer sich eine Chance dazu bietet, erscheint ihm als die einzige Möglichkeit, am Aufbau des von ihm unablässig beschworenen «anderen Deutschlands» mitzuwirken.
In diesem Frühjahr 1940 geht es zuerst einmal um seine eigene Existenz. Nach den Wochen im Internierungslager, in denen der deutsche Emigrant den Wachmannschaften nahezu perfekt einen Norweger vorgegaukelt hat, trifft er sich in der Wohnung von Freunden mit Carlota. Doch angesichts des in der Hauptstadt bereits weit vernetzten Fahndungsapparats der Nazis wird ihm das Pflaster dort bald zu heiß. Mit leicht veränderter Frisur zieht er sich deshalb in die abgeschieden gelegene Ferienkate eines Mitarbeiters der «Volkshilfe» zurück, in der er einen Monat lang wie ein Einsiedler haust.
Materielle Not leidet er in seinem Versteck am Oslofjord nicht, umso mehr frustriert ihn die erzwungene Untätigkeit. Die bisherige Arbeit im Untergrund fortzusetzen, hält der SAP-Funktionär bei seinem hohen Bekanntheitsgrad im Lande kaum für denkbar – und auch für wenig ersprießlich. Mut schöpft er in dieser Phase des Krieges allein aus den Durchhalteparolen des britischen Premierministers Winston Churchill, insbesondere aus dessen legendärer «Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede», die er in seinem Holzhäuschen über die BBC mithört.
Der politische Sachverstand sagt ihm, dass er im geliebten Norwegen nichts mehr auszurichten vermag, und weil darüber hinaus inzwischen zumindest einer seiner Bekannten in den Dienst der deutschen Sicherheitspolizei getreten ist, hat er jederzeit zu befürchten, in seiner Bleibe aufgespürt zu werden. So kommt für ihn abermals nur die Flucht in Frage – diesmal nach Schweden.
Es ist ein harter Weg, zu dem er sich Ende Juni aufmacht. Einen ersten Teil kann Brandt, der damals noch nicht im Besitz der norwegischen Staatsbürgerschaft ist und auch sonst über keinerlei brauchbare Papiere verfügt, per Schiff und Bahn hinter sich bringen, doch die schwierige letzte Etappe muss er zu Fuß zurücklegen. Im unmittelbaren Grenzgebiet setzt ihn ein vorher instruierter ortskundiger Bauer auf die richtige Fährte, um den Patrouillen der Wehrmacht auszuweichen.
Anders als es seinem Image entspricht, ist Schweden zu dieser Zeit nur bedingt ein Hort der Entwurzelten und Verfemten. Ausländer, wenn sie nicht aus Norwegen oder Dänemark einreisen, benötigen ein Visum, das die Behörden an rigide Auflagen binden. Ähnlich wie die Schweiz hat das größte Land Skandinaviens panische Angst, ebenfalls okkupiert zu werden, und will den Zustrom von politisch Verfolgten aus diesem Grund so weit wie möglich eindämmen. Seit Beginn des Krieges arbeitet die schwedische Sicherheitspolizei (Säpo) sogar mit ihren deutschen Kollegen aus Berlin zusammen – die sozialdemokratisch geführte Regierung in Stockholm hofft den nationalsozialistischen Tiger durch demonstratives Wohlverhalten zu zähmen.
Natürlich kennt Willy Brandt die Probleme. Um nach seinem illegalen Grenzübertritt nicht aufgegriffen und womöglich unverzüglich zurückgewiesen zu werden, erscheint es ihm sinnvoll, sich freiwillig zu stellen, und so vertraut er sich auf kürzestem Weg einem Militärposten an. Der zeigt sich leicht verwirrt, als ihn der Flüchtling mit dem schwer durchschaubaren Fall eines «doppelten Emigranten» konfrontiert, der sich unter seinem deutschen Geburtsnamen registrieren lässt, zugleich aber in fließendem Norwegisch darauf beruft, die Staatsangehörigkeit des besetzten Nachbarlandes beantragt zu haben, und verfrachtet ihn in ein nahegelegenes «militärisches Sammelquartier».
Von dort aus geht es für die folgenden drei Wochen nach Charlottenberg, wo ihn die örtliche Polizei in Gewahrsam nimmt und ihm großzügig gestattet, seine Kontakte zu nutzen. Wieder ist es ein alter Bekannter aus der gemeinsamen Zeit in Spanien – diesmal der einflussreiche Reichstagsabgeordnete August Spangberg –, der ihm in seiner Notlage weiterhilft. Herbert Frahm wird «Sonderurlaub» gewährt und darf
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