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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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daran lässt, dass die Demokratien letztlich den Sieg davontragen werden. Zwischendurch genießt er die «Ruhe des Friedens», feiert auf einer Skihütte mit Carlota Weihnachten und vergnügt sich über das Osterfest 1940, das in jenem Jahr bereits auf den 24./25. März fällt, in den noch tiefverschneiten Bergen.
    Doch das schöne «Gefühl der Abgeschiedenheit und des Entrücktseins» hat schon kurz danach ein Ende.

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    3.
    «Verhalten sich der Herr Redakteur nun auch wirklich neutral?» Exil in Schweden
    Am Abend des 8. April kommt Brandt erst spät nach Hause. Auf einer Versammlung der «Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft» hat er vor Emigranten über den zunehmenden Expansionsdrang der Nazis gesprochen – und wie zur Bestätigung seiner pessimistischen Einschätzung meldet die Küstenwache gegen Mitternacht einen Angriff feindlicher Kampfschiffe auf die Festungen im Oslofjord; eine halbe Stunde später wird der erste Fliegeralarm ausgelöst, kurz nach Sonnenaufgang erreichen Maschinen der deutschen Luftwaffe den Flughafen der norwegischen Hauptstadt und setzen dort Fallschirmjäger ab. Nahezu zeitgleich werden Bergen, Trondheim und andere größere Orte von Hitlers Marine attackiert.
    Wirklich erstaunen kann diese Entwicklung den inzwischen hauptamtlichen «Volkshilfe»-Sekretär, den die Pariser SAP-Leitung bereits vorsorglich zum «Geschäftsträger» der Partei ernannt hat, falls die Wehrmacht Frankreich besetzen sollte, eigentlich nicht. Doch er fühlt sich dennoch überrumpelt. «Bis zum Exzess vom Wunschdenken betäubt», gesteht er in seinen Memoiren, habe er schlicht verdrängt, wie groß die Gefahr einer Invasion gewesen sei.
    Unvergesslich bleibt Willy Brandt diese Nacht, in der das NS-Regime seine Operation «Weserübung» einleitet, auch aus einem zweiten Grund. Im Lärm der aufheulenden Sirenen flüstert ihm seine Gefährtin ins Ohr, was sie im Laufe des Tages von ihrem Arzt erfahren hat: Sie ist schwanger – eine Nachricht, die ihn «sehr froh» stimmt, wie sie danach im Freundeskreis erzählt.
    Lange über zukünftige Vaterfreuden zu jubilieren, fehlt dem Verlobten freilich die Zeit. Er weiß, dass mehrere im Reich verhaftete Genossen einen nicht geringen Teil der gegen sie erhobenen Anschuldigungen zu ihrer Entlastung auf ihn abgewälzt haben, weshalb er nun davon ausgehen muss, in den Fahndungslisten der Gestapo als «Volksschädling» weit oben zu stehen. Eile ist also geboten, und schon wenige Stunden nach Beginn des deutschen Überfalls, dem sich das unvorbereitete einheimische Militär nur halbherzig entgegenstemmt, befindet sich der Exilant aus Lübeck erneut auf der Flucht.
    Im Schlepptau einiger NAP-Funktionäre schlägt er sich zunächst ins Landesinnere durch, um dann der größten Gefahr mit einem Trick zu entrinnen. In einem Haufen kapitulationsbereiter Freiwilliger entdeckt er einen guten Freund aus spanischen Tagen, der ihn kurzerhand in seine Einheit einschleust und zudem in die eigene, viel zu enge Uniform steckt. Während der junge Norweger in der Zivilkleidung des Deutschen das Weite sucht, ergibt sich Brandt, nachdem er zuvor seinen Fremdenpass vernichtet hat, mit den «Kameraden» der Besatzungsmacht.
    Der Widerstandskämpfer mit geschultertem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett in der martialischen Montur einer gegnerischen Armee: Was dem vermeintlichen Soldaten vor Ort lediglich vier Wochen Gefangenschaft einträgt – die Okkupanten entlassen die blutsverwandten «nordischen Arier» zügig in deren jeweilige Wohnorte –, führt in der Bonner Nachkriegsrepublik zu lange anhaltenden, erregten Debatten. Konservative und Nationalisten werfen dem ausgebürgerten Emigranten vor, er habe auf Wehrmachtsangehörige geschossen und sein Vaterland schmählich verraten.
    Wie schon bei seinem Engagement in Spanien kann ihm eine aktive Beteiligung an militärischen Einsätzen niemals nachgewiesen werden. Ebenso energisch wie erfolgreich verwahrt er sich in mehreren Prozessen gegen solche Unterstellungen, beharrt allerdings schon 1948 darauf, dass der bewaffnete Kampf gegen die NS-Invasoren durchaus legitim gewesen wäre: «An jenem Morgen, als Hitlers Flugzeuge über die Dächer Oslos strichen, empfand ich es als selbstverständliche Pflicht, der gerechten norwegischen Sache nach Kräften zu dienen.»
    Er sei zwar «dem Schicksal dankbar», wird Brandt später hinzufügen, dass er nicht auf Landsleute schießen musste, wie jene Franzosen unter General de Gaulle,

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