Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Schließlich gehört Willy Brandt mittlerweile wieder der SPD an und weiß sich darüber hinaus in der Gunst des Exilvorsitzenden Erich Ollenhauer, der mit stiller Zähigkeit seine Rückkehr betreibt. Umso schwerer fällt ihm die Entscheidung.
So pendelt der Journalist zunächst einmal etwas ruhelos zwischen Stockholm und Oslo hin und her und nimmt von schwedischen wie von norwegischen Blättern ein paar Aufträge entgegen. «Aber seine Gedanken kreisten um Deutschland», schreibt in ihren «Erinnerungen» die damals neue Freundin Rut.
[zur Inhaltsübersicht]
4.
«Verbrecher und andere Deutsche» Rückkehr in die zerstörte Heimat
Dass Willy Brandt schon wenige Monate nach Kriegsende und somit weit früher als die meisten anderen Emigranten wieder deutschen Boden betreten darf, hat er seinen Verbindungen zu verdanken. Das Osloer «Arbeiderbladet» und einige weitere skandinavische Zeitungen schicken ihn im November 1945 nach Nürnberg. Dort soll er den Prozess des von den Siegermächten zusammengestellten Internationalen Militärtribunals beobachten, das über vierundzwanzig Hauptverantwortliche des Nazi-Regimes zu Gericht sitzt.
Die Akkreditierung erteilt ihm die britische Botschaft in Oslo, und weil das so verlangt wird, trägt er bereits bei der Anreise, die ihn in einer Transportmaschine der Royal Air Force zunächst nach Bremen führt, eine norwegische Uniform. Per Ärmelstreifen als «War Correspondent» ausgewiesen, kann er sich in den streng voneinander getrennten Besatzungszonen frei bewegen. Er nutzt dieses Privileg, um noch vor Verhandlungsbeginn seine Verwandten in Lübeck zu besuchen und sich erste Eindrücke von seinem zerbombten Geburtsland zu verschaffen, die ihm schwer aufs Gemüt schlagen.
Seiner Begegnung mit Mutter Martha, dem Stiefvater Emil Kuhlmann und dem um vierzehn Jahre jüngeren Halbbruder Günther entsinnt sich der Besucher in der für ihn typischen Distanz: Die Befürchtung, wie er in «Links und frei» schreibt, «dass es uns nicht leichtfallen würde, zu einem seelischen Gleichklang zu finden», bewahrheitet sich. Zwar liegt man sich rasch in den Armen – und als der «fremde Soldat» die köstlichen Mitbringsel verteilt, die er zuvor in einem Laden für die Angehörigen der amerikanischen Besatzungssoldaten erstanden hat, ist es bald «wie an Weihnachten».
Aber es bleibt nicht so. Als das Gespräch darauf kommt, was der Familie von den Exzessen im «Dritten Reich» bekannt geworden sei, steht Willy Brandt plötzlich vor einer «psychologischen Barriere». In jener Nacht sieht sich der Heimkehrer mit der «erstaunlichen Erfahrung» konfrontiert, dass selbst seine Mutter und deren Mann, die er wohl zu Recht als «unerschütterliche Nazi-Gegner» einschätzt, ihm gegenüber in tiefes Schweigen verfallen. Der von den Alliierten hartnäckig verfochtene Grundgedanke, nach dem sich nun «alle Deutschen als Mörder» zu betrachten hätten, so hält er in seiner Retrospektive fest, habe ihnen schlicht den Mund verschlossen – «das war zu viel, das wollten sie nicht tragen».
Diese Erkenntnis, die ihm im Kern schon in Stockholm zu dämmern begann, wird fortan seine Einstellung bestimmen. Als entschiedener Widerstandskämpfer über jeden Zweifel erhaben, kritisiert er nun immer unverhohlener die in der frühen Nachkriegszeit verbreitete und nach seiner Auffassung ebenso unsinnige wie kontraproduktive These von der deutschen Kollektivschuld. Die führe lediglich dazu, klagt er in seinen Artikeln, dass sich auch viele Oppositionelle vor der «zerstörerischen» Wucht und dem Ausmaß der Anklage in fadenscheinige Erklärungen flüchteten oder die Verbrechen, für die sie nichts konnten, «erschrocken herunterredeten».
Und in ähnlicher Weise irritiert ihn, wie wenig den Siegern offenbar daran liegt, ausgewiesene Antifagruppen mit den dringend nötigen Aufbauarbeiten zu betrauen. Im Gegenteil: Wo immer sie sich bemerkbar machen, beeilen sich die Behörden, sie kaltzustellen, um zunächst einmal ihr Entnazifizierungsprogramm voranzutreiben. Brandt empfindet diesen «bürokratisierten Hexenprozess» nicht zuletzt deshalb als Farce, weil die Nutznießer der braunen Tyrannei in den Verfahren häufiger ihren Kopf aus der Schlinge ziehen können als die zahllosen kleinen Mitläufer.
Bereits nach einigen Tagen wird dem norwegischen Kriegskorrespondenten zudem bewusst, dass sich seine in zwölf Jahren Exil entwickelten Vorstellungen von einem politischen Neuanfang angesichts der
Weitere Kostenlose Bücher