Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Lebenswirklichkeit in den Besatzungszonen kaum realisieren lassen. Was er in den Wochenschauen skandinavischer Kinos über die Zustände in Deutschland gesehen hat, steht in keinem Verhältnis zu jenen Bildern, die ihn jetzt in Bremen oder Lübeck um den Schlaf bringen. Desorientiert muss er sich etwa in seiner Heimatstadt, die von der britischen Luftwaffe mit einem Großangriff im März 1942 in eine Trümmerwüste verwandelt worden ist, zur mütterlichen Wohnung erst mühsam durchfragen, und der Grad der Zerstörung, der ihm später in Frankfurt und Nürnberg begegnet, liegt noch deutlich darüber.
Für eine demokratische Volksbewegung, die sich der Sozialist stets erhofft und in seinen Zukunftsszenarien prognostiziert hat, fehlen in diesem niedergebrannten Land vielfach die Akteure. Die Davongekommenen sind auf Schwarzmärkten oder beim «Organisieren» des Bitternötigsten zu sehr mit sich befasst, als dass sie ernsthaft über politische Konzepte nachdächten. Es herrscht eine weitverbreitete Apathie – und soweit sich die Deutschen überhaupt mit der NS-Vergangenheit beschäftigen, erschöpfen sich ihre Antriebskräfte im Wesentlichen in der Suche nach Zeugen, um sich wechselseitig die begehrten «Persilscheine» auszustellen.
Herbert Frahm, wie er in seinen Personalakten nun wieder heißt, beteiligt sich selbst daran. In einem Brief bestätigt er dem Juristen Emil Peters, er habe ihn 1933 vor den Ermittlungen der Lübecker Staatsanwaltschaft gewarnt, und ebnet seinem einstigen SAP-Mitstreiter damit den Weg in den Senat. Aber er versucht auch sonst zu helfen, wo er kann. Engagiert dient sich Brandt über die scharf voneinander abgegrenzten Besatzungszonen hinweg als Briefträger an oder forscht nach Vermissten und drängt seine schwedische Landesgruppe, kranke Kinder mit Care-Paketen zu unterstützen. Dabei mögen Ängste eine gewisse Rolle spielen, dass ihm die deutschen Freunde und Genossen seine vergleichsweise komfortablen Lebensumstände neiden könnten.
Die auf den 20. November 1945 anberaumte große Abrechnung mit der Nazi-Prominenz ist für den Kriegskorrespondenten ein «entscheidender Fortschritt in der Entwicklung internationalen Rechts», aber er sieht den Prozess auch skeptisch. Insbesondere kreidet er dem Militärtribunal an, dass es sich nicht dazu durchgerungen habe, die innenpolitischen Gegner der NS-Diktatur, die ja schon lange vor Kriegsbeginn unter schweren Repressalien zu leiden hatten, als Kläger und Richter zuzulassen. Darüber hinaus stört ihn die Einäugigkeit der alliierten Juristen, die sich nicht einmal ansatzweise mit der fatalen Appeasement-Strategie des Westens oder der Kumpanei der Sowjetunion nach dem Überfall Hitlers auf Polen befassen.
So erschüttert sich Brandt etwa über die während der Verhandlung vorgeführten Dokumentarfilme aus den befreiten Konzentrationslagern zeigt und eindringlich dafür plädiert, die Bilder des Grauens niemandem zu ersparen, so wenig interessieren ihn die in Nürnberg versammelten Hauptverantwortlichen als Personen. An «Göring und Compagnie», mit denen er wochenlang im selben Saal sitzt, fällt ihm nur auf, dass sie «doch viel unbedeutender» gewirkt hätten, als er vorher geglaubt habe. Eine Ausnahme bildet für ihn lediglich, wie er später schreibt, der Rüstungsminister Albert Speer. Der sei in seinem Schlusswort immerhin darauf eingegangen, was «Technokraten zum Werkzeug des schlechthin Bösen werden lässt».
Seine Eindrücke bündelt der hochproduktive Journalist in einem Buch, das er bereits im folgenden Sommer in einem Osloer Verlag publiziert. Es trägt den spektakulären Titel «Forbrytere og andre tyskere» – «Verbrecher und andere Deutsche» –, eine im Nachhinein von ihm selbst als nicht in allen Passagen gelungen erachtete Schrift, die in der frühen Bonner Republik jedoch fast unbeachtet bleibt. Mit dem Aufstieg des Autors zu einem der profiliertesten Sozialdemokraten macht der Essay, der zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung zur «Beseitigung der Ruinen auf den Straßen und in den Hirnen» beitragen soll, dann allerdings umso mehr Furore. In absichtsvoller Verdrehung des Titels wird dem einstigen Emigranten vorgeworfen, er habe in seinem Text die Landsleute «in toto und per se» kriminalisiert, also den unerbittlichsten Hardlinern in den Reihen der Alliierten in die Hände gespielt. Zwar wehrt sich der 1948 wieder eingebürgerte Heimkehrer gegen die grotesk ausufernde Schlammschlacht mit Strafanzeigen und
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