Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
einstweiligen Verfügungen, politisch aber kann er nicht verhindern, dass ihn national-konservative Kreise noch jahrzehntelang als «Vaterlandsverräter» diffamieren. Ein bisschen leistet er diesen Verleumdungen aber auch selber Vorschub, denn über seinen Aufenthalt «draußen» erfahren die «Dringebliebenen» zunächst nur relativ wenig, und erst geraume Zeit nach seinem Tode entschließt sich die in Berlin angesiedelte «Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung», das bis dahin lediglich in norwegischer und schwedischer Sprache vorliegende Werk vollständig zu übersetzen.
Wie grundlos der junge Gerichtsberichterstatter damals befehdet worden ist, lässt sich seither Satz für Satz belegen. In den knapp sechs Monaten, die er unter zum Teil schwierigen Bedingungen in Nürnberg verbringt, verfertigt er, was die juristische Bewertung des NS-Terrors anbelangt, eine erstaunlich kluge Zwischenbilanz. Ihre Bedeutung bezieht sie gerade daraus, dass sie in einer sorgsam differenzierten Betrachtungsweise insbesondere die Wesensmerkmale von Schuld und Verantwortung voneinander trennt: So zwangsläufig, argumentiert der Reporter, nun auch jene die Folgen der Katastrophe mitzutragen hätten, die von Anfang an gegen die nazistische «Gangsterherrschaft» opponierten, so unsinnig sei es, den «Deutschen als solche» jede Sittlichkeit abzusprechen.
Am meisten verblüfft der trotz seines Erschreckens über das Maß der Vernichtungswut optimistische Grundton des Buches. «Eine einigermaßen stabile demokratische Führung» vorausgesetzt, glaubt der Autor, dem jede moralische Selbstüberhebung fremd ist, schon im Frühjahr 1946 an die «große Chance». Sofern man ihnen das nur erlaube, würden sich seine Landsleute «wieder hocharbeiten», und falls sie nicht verdrängten, was um ihrer Zukunftsfähigkeit willen aufgeklärt werden müsse, «ein völlig neues nationales und gesellschaftliches Dasein» gestalten.
Nein, an seiner prinzipiell patriotischen Gesinnung kann es nach Lektüre dieses Textes keinen Zweifel geben. Je intensiver sich der Beobachter mit dem Prozess befasst, desto mehr liegt ihm an einem nach vorne gerichteten Blick. Es geht Brandt letztlich um Deutschland, dessen Fortbestand und Errettung der spätere Außenminister und Kanzler «in einen größeren europäischen und internationalen Zusammenhang» eingepasst wissen möchte. Nach der bedingungslosen Kapitulation warnt er aber auch zugleich vor «würdeloser Unterwerfung», und bei allem Verständnis für die nun fälligen Reparationen, in deren Rahmen ihm selbst einige Gebietsverluste hinnehmbar erscheinen, argumentiert er hartnäckig, wie vorher bereits in seinen schwedischen «Studien», gegen eine drohende «Zerstückelung» des geschundenen Landes an.
Die in vielerlei Hinsicht realistische, einen ausgeprägten Homo politicus verratende Vorausschau basiert indes auf der Prämisse, dass die Kriegskoalition hält. Nichts empört ihn mehr als die an heimischen Stammtischen verbreitete törichte Forderung, die Reste der Wehrmacht sollten sich mit den westlichen Alliierten vereinigen, um danach gemeinsam gegen die Russen zu Felde zu ziehen. Solche Hirngespinste sind ihm allein schon deshalb zuwider, weil er in der Sowjetunion einen unverzichtbaren und für das künftige europäische Gleichgewicht hochbedeutsamen Ordnungsfaktor sieht. Mit ihr wie der angloamerikanischen Seite den Ausgleich zu suchen, gilt ihm als Kernpunkt deutscher Interessen.
Doch in diesem Gedankengang täuscht sich der talentierte Jungvisionär. Die nur durch den Kampf gegen Hitler zusammengehaltenen Waffenbrüder leben sich nach ihrem Triumph über den NS-Staat zügig auseinander.
Neben der komplizierten politischen Situation sind es im ersten Nachkriegsjahr die noch offenen privaten und beruflichen Fragen, die Brandt zunehmend beschäftigen. Im fernen Skandinavien sitzen sowohl die inzwischen wieder nach Oslo zurückgekehrte Geliebte als auch in ihrer Nähe seine Ehefrau, die mit Tochter Ninja die Trennung zu überwinden versucht – und wie respektive in welchem Land es für ihn weitergehen könnte, vermag er ebenfalls nicht zu sagen.
In jener Zeit schreibt er an beide Frauen ungezählte Briefe, die es Carlota erleichtern, in die Scheidung einzuwilligen, während Rut mit ihrer Korrespondenz kaum hinterherkommt. «Willy» sei in gleicher Weise «unsicher über sich selbst» gewesen, wie ihn die Entscheidung darüber gequält habe, «wo und woran und an wen er sich binden sollte», wird sie
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