Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
als betagte Dame in ihren «Erinnerungen» notieren und lässt ihm damals in allem freie Hand.
Wenigstens weiß der Freund, dass sie ihm auch nach Deutschland folgen würde – in seinen bislang noch vagen Planspielen ist diese Verbundenheit die einzige Konstante. Zuweilen erträumt er sich als bestens vernetzter Norweger eine internationale Karriere, die ihm unter dem Dach der gerade gegründeten UNO leicht realisierbar erscheint, aber die Aussicht, sich damit zunächst einmal auf die Diplomatie festzulegen, also ständig von Weisungen seiner Regierung abhängig zu sein, reizt ihn dann doch nicht. Lieber will er sich selber als «handelnde Person» erfahren; und welcher Ort wäre dafür besser geeignet als ein bis auf die Grundmauern zerstörtes, verelendetes Gemeinwesen.
Wie eng der Journalist seinem Geburtsland innerlich noch immer verbunden ist, zeigt sich an der Zielstrebigkeit, mit der er jede Gelegenheit wahrnimmt, von seinem Nürnberger Quartier aus die Provinzen zu erkunden. Zu einem ersten öffentlichen Auftritt verhelfen ihm die Briten, und so darf er im Mai 1946 in seiner Heimatstadt über «die Welt und Deutschland» reden, eine Veranstaltung mit beträchtlicher Resonanz. Der von den Engländern eingesetzte schleswig-holsteinische Oberpräsident Theodor Steltzer – 1944 bei Brandt in Stockholm einer der Emissäre aus der Widerstandsbewegung – ermuntert ihn nachdrücklich, Bürgermeister von Lübeck zu werden.
Der Spross aus dem proletarischen St. Lorenz fühlt sich geehrt – und lehnt dankend ab. Nach seinen Kontakten mit Parteiführern, Regierungschefs und Ministern, die ihm in Skandinavien zur Gewohnheit geworden sind, traut er sich in Nachkriegsdeutschland die Übernahme wichtigerer Aufgaben zu, als im politischen Mittelbau zu versanden. Bereits im November 1945 hat er sich deshalb per Brief an den großen Kurt Schumacher gewandt, der von seinen Gefolgsleuten kurz zuvor zum «Beauftragten der SPD für die drei westlichen Besatzungszonen» gekürt worden ist, um einen Gesprächstermin zu erbitten: Als ehemaliger SAJ- und SAP-Funktionär, der in Schweden zu den Sozialdemokraten zurückgefunden habe, lässt er ihn wissen, wolle er seinen Beitrag zum Wiederaufbau des Landes und der Arbeiterbewegung leisten.
Zweimal sieht man sich danach, doch die beiden Treffen, von denen eines am Rande des ersten Parteitags in Hannover stattfindet, verlaufen enttäuschend. Zwar schätzt ihn der neue Vorsitzende, wie er anschließend seiner Sekretärin und späteren Bundestagspräsidentin Annemarie Renger verrät, als einen begabten und interessanten Mann ein, scheint sich aber eine Zukunft des norwegischen Korrespondenten bei «uns in Deutschland» bis auf weiteres kaum vorstellen zu können, und dieses Gefühl vermittelt er auch seinem Besucher.
Er habe jedenfalls nicht den Eindruck gewonnen, «dass meine rasche Mitarbeit gefragt war», entsinnt sich der hingehaltene Bewerber und macht aus seinen Empfindungen keinen Hehl: Der besonderen Vita wegen achtet er den unbeirrbaren, in Konzentrationslagern gequälten, einarmigen und bis auf die Haut abgemagerten Führungsgenossen als «Symbol» des schwergeprüften Landes und «Repräsentant einer nationalen Neubesinnung» – und misstraut ihm zugleich: «Ich respektierte Schumachers Bedeutung, doch das Apodiktische seiner Aussagen oder Ausbrüche widerstrebte mir, wie auch die Absolutheit seines Anspruchs auf Gefolgschaft.»
Die Gegensätze zwischen den beiden – rückblickend gesehen – wichtigsten sozialdemokratischen Chefs der Nachkriegsrepublik geben sich insbesondere in der vieldiskutierten «Einheitsfrage» zu erkennen. Anders als der Vorsitzende, der einen unerbittlich antikommunistischen Kurs steuert, kann sich Willy Brandt von der Idee einer Verschmelzung aller linken Kräfte nur schwer verabschieden. So sympathisiert er längere Zeit mit Plänen eines Berliner SPD-«Zentralausschusses» um Otto Grotewohl, die sich dann allerdings im April 1946 erledigen, als seinen Genossen in der sowjetischen Besatzungszone die Vereinigung mit der KPD aufgezwungen wird. Während sich Schumacher in seiner von Anfang an ablehnenden Haltung bestätigt sieht, beschleichen ihn spätestens nach dem kurz darauf in Hannover anberaumten Konvent, an dem er als norwegischer Korrespondent und Vertreter der Sozialdemokraten im skandinavischen Exil teilnimmt, böse Ahnungen. Die deutsche Arbeiterbewegung, befürchtet er, könne sich nun auf Dauer in eine Ost- und eine West-Partei
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