Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Eindruck, sein Selbstzerfleischungsprozess sei kaum noch zu stoppen. Journalisten aus dem In- und Ausland betrachten das Resultat im bürgerlich-stabilen Südwesten der Republik mit Blick auf die für 1969 anberaumte Bundestagswahl als Menetekel, und die ratlose Führungsriege der Sozialdemokraten stürzt unversehens in eine schwere Sinnkrise. Die erreicht ihren vorläufigen Gipfelpunkt, als der Vorsitzende auf einer Klausurtagung dem Präsidium den Vorschlag unterbreitet, sein Ministerbüro zu räumen, um sich künftig mit voller Kraft um die Partei kümmern zu können.
Der Chefsessel der SPD, zeigt sich hier zum ersten Mal, ist ihm letztlich wichtiger als jedes Amt, das die Exekutive zu vergeben hat – doch Wehner und Schmidt durchkreuzen den Plan. Mit dem einleuchtenden Argument, einen derart aufsehenerregenden Schritt müsse die Öffentlichkeit als Anfang vom Ende der Koalition deuten, stellen sie ihm kurzerhand einen Geschäftsführer zur Seite. Brandts Wahl fällt auf Hans-Jürgen Wischnewski – wie sich vor allem in den Jahren des RAF-Terrors erweisen wird, ein Organisationstalent von hohen Graden.
Über die wahren Beweggründe des Vorsitzenden, seiner Partei den Verzicht auf das Ministerium anzubieten, wird danach ausgiebig gerätselt. Plausibel erscheint die Deutung, er selbst habe dem schwarz-roten Pakt keine Erfolgschance mehr eingeräumt und zunächst einmal die tatsächlich von Spaltung bedrohte SPD retten wollen. Kaum minder schwer wiegt dabei allerdings auch der Frust, den ihm der außenpolitisch ambitionierte Kiesinger zunehmend bereitet.
Treibt ihn also abermals ein Hang zum Eskapismus, in dem er sich seit der frühesten Jugend «stets auf der Suche und nicht selten auf der Flucht» befindet, wie es der Historiker Gregor Schöllgen vermutet? Vom ersten Tag seiner Amtszeit an fühlt sich Brandt auf Konferenzen in Abidjan oder Santiago de Chile jedenfalls sehr viel wohler, als sich daheim mit dem launischen Kanzler oder Herbert Wehner herumschlagen zu müssen – und er selber räumt später freimütig ein, dass es in Anbetracht der in Bonn wachsenden Probleme «vielleicht ein bisschen viel» gewesen sei, wenn er ein Drittel der ihm zur Verfügung stehenden Zeit auf Reisen zugebracht habe.
Doch bei den Kollegen im Ausland, die für ihn «eine Art internationale Großfamilie bilden», kann er sein bisweilen niedergedrücktes Ego aufpäppeln. Während man ihn zu Hause seiner vermeintlichen Defizite wegen kritisiert, gilt er den meisten Gesprächspartnern jenseits der Grenzen als der «gute Deutsche», dessen außerordentliche Weltläufigkeit selbst dann als willkommene Bereicherung empfunden wird, wenn ihm nicht alles gelingt.
Seine Starrolle findet er dabei vor allem als stets auf Ausgleich bedachter Vermittler: Der neue Chefdiplomat ist kaum im Dienst, als er in einer Klausur des Nato-Ministerrats entschlossen Farbe bekennt. Im ewigen Streit zwischen «Atlantikern» und «Gaullisten» – den mehr auf Amerika fixierten Politikern und den Anhängern eines «europäischen Europas» – stellt er sich souverän an die Spitze jener, die den USA den Rücken stärken, ohne ihnen «blinden Gehorsam» zu versprechen. Um den eigenen Kontinent im Konzert der Supermächte Zug um Zug zur «dritten Kraft» auszubauen, wirbt er bei den störrischen Franzosen für einen Beitritt des nicht minder schwierigen Königreichs Großbritannien zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und erreicht damit immerhin, dass sich die unter Ludwig Erhard vernachlässigten Beziehungen zu Paris und London gleichermaßen verbessern.
Im Zentrum aller Initiativen steht für Brandt die vorsichtig modifizierte Ost- und Deutschlandpolitik, die in der Koalitionsvereinbarung zwar in Umrissen zu Papier gebracht worden ist, nach seiner Überzeugung aber dringend der Präzisierung bedarf. So bringt er erstmals die «Anerkennung beziehungsweise Respektierung der Oder-Neiße-Linie» ins Gespräch, womit er seine Bereitschaft bekundet, den endgültigen Verlust der einstigen Reichsprovinzen zu akzeptieren, und bietet den Machthabern in der DDR ein «qualifiziertes, geregeltes und zeitlich begrenztes Nebeneinander der beiden Gebiete» an.
Ein Konzept, betont der SPD-Vorsitzende nun immer eindringlicher, das «entlang der Wirklichkeit» zu entwickeln sei. Dass seine Vorstellungen, die er mit dem Staatssekretär Klaus Schütz und Sonderbotschafter Egon Bahr ständig verfeinert, über Kiesingers Regierungserklärung deutlich hinausgehen,
Weitere Kostenlose Bücher