Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
für den bisherigen Justizminister. Wie der neue Bundespräsident nach dem erfolgreichen Coup in der für ihn typischen Unbekümmertheit verkündet, «ein Stück Machtwechsel» im Lande.
Zum damaligen Zeitpunkt ist dieses Statement reichlich verfrüht, doch die Zeichen dafür, dass die Geschicke der Republik bald von einer noch nie erprobten Verbindung bestimmt sein könnten, mehren sich. Von seinem Emissär, dem späteren Finanzminister Alex Möller, eingefädelt, trifft sich Brandt kurz darauf mit dem FDP-Chef Walter Scheel, um bei einem Mittagessen im Düsseldorfer Industrie-Club über die Leitlinien für eine künftige sozialliberale Koalition zu beraten. Da sie in ihren eigenen Reihen aber erhebliche Widerstände zu überwinden haben, vereinbaren die Parteiführer, das Treffen geheim zu halten und einstweilen auf weitere Kontakte zu verzichten.
Denn im Kern haben sie die gleichen Probleme. Einem starken Block in der FDP, der nach wie vor auf eine bürgerliche Regierung setzt, entspricht in der SPD die im Wesentlichen von Wehner und Schmidt gebildete Achse, die immerhin so stabil ist, dass sie dem Druck des Vorsitzenden hartnäckig widersteht. Obschon in den Wochen des Bundestagswahljahrs jedermann erahnt, welche Konstellation der Kanzleraspirant in seinen Planspielen bevorzugt, bleibt die Entscheidung über das zukünftige Bündnis bis in die letzten Tage hinein offen. Vor dem Wahlkongress, der im April 1969 in Bad Godesberg stattfindet, kann sich Brandt noch nicht einmal sicher sein, wieder zum Kandidaten gekürt zu werden. So positiv ihn die meisten Genossen als Außenminister bewerten und seine Entspannungspolitik unterstützen, so sehr wächst nun die Zahl derer, die eine neuerliche Niederlage befürchten. Nach zwei vergeblichen Anläufen, das Kanzleramt zu erobern, vermissen sie bei ihrem mittlerweile fünfundfünfzigjährigen Spitzenbewerber die Strahlkraft des jugendlichen Hoffnungsträgers, die ihn einst in Berlin als Bürgermeister auszeichnete. Dominante Kabinettskollegen wie Karl Schiller oder Helmut Schmidt, heißt es hinter vorgehaltener Hand, würden dem häufig fahrigen Schöngeist Kurt Georg Kiesinger vermutlich eher den Schneid abkaufen.
Doch der offenkundig fest entschlossene Vorsitzende ignoriert das Geflüster. In einer mitreißenden Rede erstickt er alle Gedanken daran, dass einem anderen Parteifreund die Rolle des Herausforderers besser zu Gesicht stehen könnte als ihm, um sich dann ungerührt in der Pose des starken Mannes anzupreisen. Unter seiner Führung, wirft sich Brandt in die Brust, werde die von ihm in Anspruch genommene Richtlinienkompetenz mehr sein «als eine Gebrauchsanweisung für das Ausklammern entscheidungsreifer Probleme», und die zuvor noch mehrheitlich skeptischen Delegierten applaudieren.
Dass er es unbedingt noch einmal wissen möchte, rechtfertigt er vor sich selbst vor allem mit außenpolitischen Gründen. Der Beginn des Bundestagswahlkampfs fällt in eine Phase bedeutender Weichenstellungen, deren Zustandekommen zum erheblichen Teil auf seinen Initiativen basiert und die er später als Kanzler zügig vorantreiben will. In erster Linie geht es ihm dabei um den «inneren Zusammenhang zwischen europäischer Sicherheit, Rüstungsbegrenzung und nuklearer Nichtverbreitung» – nach seiner Überzeugung die für einen tragfähigen Ost-West-Ausgleich unverzichtbaren Elemente. In der bisherigen Koalition, beschwört der SPD-Chef die Genossen, seien diese Stützpfeiler schon deshalb kaum zu errichten, weil die von Franz Josef Strauß kommandierte «rechte Ecke» der Union ihr Veto einlegen werde.
Im Übrigen plagt ihn die Ungeduld. Auf dem Felde der innerdeutschen Beziehungen, erinnert sich der Memoirenschreiber noch zwei Jahrzehnte danach, habe sich Kiesinger lediglich dazu durchringen können, die DDR als «Phänomen» zu bezeichnen – und erzählt dann mit beißendem Spott, wie darauf in seinem Außenamt reagiert worden sei: Folgsam hätten die Mitarbeiter dort alle das Ostberliner Regime betreffenden Angelegenheiten unter dem Kürzel ATD («Anderer Teil Deutschlands») in ihren Akten geführt.
Willy Brandt hält solche und ähnliche Beispiele der Realitätsverweigerung für veritablen Unsinn, und wie sehr er darüber in Rage geraten kann, verrät im Mai 1969 die sogenannte Causa Kambodscha. Nachdem sich der ostasiatische Staat dazu entschieden hat, die DDR mit den höheren Weihen der völkerrechtlichen Anerkennung zu beglücken, wollen die Christdemokraten
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