Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
findet dabei nicht nur in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit zunehmenden Rückhalt. Wie sehr sich die alte, in ihren Rechthabereien erstarrte Politik verbraucht hat, bestätigen ihm auch die Alliierten. In einer Lageanalyse, aufgrund deren die Nato im Dezember 1967 eine grundlegende Kursänderung durchführt, erklärt der belgische Außenminister Pierre Harmel, dass die militärische Sicherheit und eine Strategie der Entspannung einander nicht ausschließen, sondern ergänzen.
Diese neuerdings «gleichwertige Zielsetzung» und mehr noch die Prämisse, die Deutschen stärker an den Bemühungen um eine friedliche Koexistenz zu beteiligen, ermutigt den Bonner Kollegen zu weiteren Taten. Im Frühsommer 1968 wirkt er maßgeblich daran mit, den Sowjets im Bereich der konventionellen Streitkräfte Gespräche über «gegenseitige ausgewogene Truppenverminderungen» vorzuschlagen – das sogenannte «Signal von Reykjavik» soll die bislang nur allgemein formulierte Forderung nach Abrüstung endlich konkretisieren.
Hält ihm die Union in diesem Fall noch die Stange, kommt es auf einem anderen Gebiet zum großen Krach. Im Juli einigen sich die USA, Großbritannien und die UdSSR nach jahrelangen Verhandlungen auf den Atomwaffensperrvertrag, den Brandt umso entschiedener befürwortet, als die Supermächte einen Beitritt der Bundesrepublik übereinstimmend als unerlässlich ansehen. Der Kanzler dagegen möchte seinen rechtskonservativen Gefolgsleuten imponieren und schiebt die Vereinbarung, die der Hardliner Franz Josef Strauß unter Anspielung auf die den Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg oktroyierte Rüstungsbeschränkung leicht hysterisch als «Versailles kosmischen Ausmaßes» bekämpft, erst mal vor sich her.
In Kreisen der christlichen Parteien steht der SPD-Chef von da an im Verdacht, die deutsche Souveränität leichtfertig preiszugeben und überhaupt eine insbesondere den Moskauer Interessen nützliche Politik zu betreiben. Welcher Hinterlist er da angeblich vertrauensselig auf den Leim geht, belegt nach ihrer Einschätzung bereits wenige Wochen später der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR. Am 21. August 1968 walzen Panzer dort den Versuch nieder, einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» zu entwickeln – für den entspannungsfreudigen Strategen in Bonn in der Tat ein schwerer Schlag. Entlarvt das jähe Ende des «Prager Frühlings» nicht seine Hoffnung, die Staaten hinter dem «Eisernen Vorhang» könnten sich friedlich wandeln, als naive Träumerei?
So sitzt er nun zeitweise zwischen allen Stühlen. Während der Koalitionspartner im Gefolge des Dramas im Nachbarland zu den Abwehrritualen des Kalten Krieges Zuflucht nimmt und Brandts «Utopismus» geißelt, attackiert ihn die Kamarilla um Breschnew als besonders perfiden Saboteur. Revanchisten wie er, wütet der Kreml, trügen mit ihren «sozialdemokratistischen Expansionsgelüsten» an der planmäßigen Zersetzung der Tschechoslowakei die Hauptschuld; der um den Weltfrieden besorgte Ostblock habe deshalb gar nicht anders gekonnt, als diesen zunehmend gefährlichen Konfliktherd zu beseitigen.
Willy Brandt wieder mal mit dem Rücken zur Wand? Dass er von Freund und Feind gleichermaßen schonungslos an den Pranger gestellt wird, beeindruckt ihn durchaus, aber in diesem Fall steht die Troika nach einer vorübergehend spürbaren Verunsicherung fest zusammen. Zu den Bemühungen um einen friedlichen Ausgleich in Europa, beharrt der SPD-Vorsitzende schließlich in ihrem Namen, gebe es auf Dauer «keine Alternative».
Weit auseinander ist das sozialdemokratische Spitzentrio allerdings in einer wichtigen innenpolitischen Frage. Um die FDP von der Regierungsbeteiligung fernzuhalten, wollen Wehner und Schmidt die Große Koalition möglichst so lange fortsetzen, bis sie sich dazu durchgerungen hat, in der Bundesrepublik das Mehrheitswahlrecht zu etablieren – aus der Warte des Außenministers, der inzwischen an eine dritte Kanzlerkandidatur denkt, eine eher ernüchternde Absicht. Ohne die Liberalen, beginnt ihm zu dämmern, hat er kaum noch Chancen, Kabinettschef zu werden.
Also nutzt er den Ehrgeiz seiner Partei, mit dem populären Genossen Gustav Heinemann zum ersten Mal in der Bonner Nachkriegsgeschichte das Staatsoberhaupt zu stellen, raffiniert zu einem Deal. Gegen das Versprechen, die ins Auge gefasste Änderung des geltenden Wahlsystems auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben, votieren die Freien Demokraten im Frühjahr 1969
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