Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
dieser Haltung bleibt er auch dann noch, als ihm sein erregter Sohn widerspricht. Dass ihn ein «gleichsam inneres Denkverbot» daran gehindert habe, sein Missfallen über die Schutzmacht USA zu bekunden, die sich im Fernen Osten auf schreckliche Weise in einen schmutzigen Krieg verstrickt, wird er erst in den frühen Siebzigern einräumen.
Willy Brandt, schreibt der Junior und spätere Professor für Neuere Geschichte in einem Essay, habe das Glück gehabt, in der heißen Phase der Revolte in die Bundeshauptstadt gewechselt zu sein – die Veränderung seines öffentlichen Images «hin zu dem eines wohlwollenden, wenngleich nicht unkritischen Förderers der ‹68er› wäre jedenfalls unter den Belastungen des Berliner Amtes nicht so glatt verlaufen». Zugleich aber billigt der Sohn dem Vater das Verdienst zu, er habe sich ernsthaft bemüht, beträchtliche Teile der Protestbewegung in das Parteiensystem der Republik zu integrieren: «Politische Gegnerschaft schlug bei ihm so gut wie niemals in persönlichen Hass um … er hatte ein hohes Maß an Verständnis dafür, dass man sich eine andere Werteskala zu eigen machen konnte, als er es selbst tat.»
Eine sicher zutreffende Analyse. Sosehr es ihm seinerzeit gegen den Strich geht, wie überschwänglich den Idolen der Dritten Welt wie Ho Chi Minh oder Che Guevara gehuldigt wird, so behutsam beginnt er sich in der Kunst zu üben, dem ungebärdigen Enthusiasmus Zügel anzulegen. Und als Dutschke seine Anhänger zum «Marsch durch die Institutionen» und massenhaften Eintritt in die SPD aufruft, sieht er in erster Linie die Chancen, anstatt sich wie Helmut Schmidt und Herbert Wehner vor einer feindlichen Übernahme der Partei zu fürchten.
Den Querdenkern der «Neuen Linken» in der Sozialdemokratie – meist ebenso rhetorisch begabte wie ideologisch versierte Jungakademiker, die auf Bezirks- und Kreisversammlungen in oft nächtelangen Diskussionen alte Mehrheiten kippen oder unentwegt «systemüberwindende» Resolutionen verabschieden – begegnet der Vorsitzende mit der größtmöglichen Contenance. Die meisten ihrer Tricks, mit denen sie den verhassten Funktionärsapparat kaltschnäuzig ins Abseits zu manövrieren versuchen, kennt er ja zur Genüge aus der eigenen Sturm-und-Drang-Zeit. Doch bei allem Engagement, den Graben zwischen den Generationen zu überbrücken, stellt er nie seine Prinzipien zur Disposition.
Das Echo darauf ist erstaunlich. Kein anderer Repräsentant aus den obersten Etagen der bundesdeutschen Politik wird von den ansonsten häufig verstockten Revolutionsstrategen mit einer vergleichbaren Nachsicht behandelt. «Gottvater», wie ihn die Jusos spöttisch-respektvoll taufen, gilt in den außerparlamentarischen Zirkeln und Zellen zwar nicht als rundum sakrosankt, aber immerhin als einziger überhaupt noch denkbarer Partner, der sich wenigstens in begrenztem Umfang um Verständigung bemüht. Und je rücksichtsloser ihn derweilen rechte Kreise mit Verleumdungen überschütten, desto besser wird sein Ruf bei den Linken.
Der gebeutelten SPD nutzt das allerdings zunächst nur wenig. Seit sie mit Kiesingers Union in einem Boot sitzt, ist ihre Akzeptanz in der Bevölkerung dramatisch gesunken, und die Analyse der vermeintlichen Ursachen verschärft im Bonner Spitzentrio erheblich die Spannungen. Hat Schmidt recht, wenn er Brandt mit schneidigen Sätzen – «Auch Demokratie braucht Führer» – schlicht der Schluderei bezichtigt? Oder trifft der Vorsitzende eher den Kern des Übels, der seit längerem davor warnt, dass die Sozialdemokratie ihre Identität nicht aus Gründen der Machtteilhabe auf dem Altar einer flüchtig zusammengezimmerten schwarz-roten «Einheitspartei» opfern dürfe?
Wehners (später als Meisterleistung gefeierter) Schachzug, der SPD über eine befristete Verbindung mit den Konservativen die Regierungsfähigkeit erst anzuerziehen, fruchtet jedenfalls noch nicht. Während sich CDU und CSU spürbar erholen, verlieren die Genossen beständig an Boden und erleiden bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg im April 1968 schließlich verheerende Einbußen von mehr als acht Prozentpunkten. Der Schock über diese Niederlage wiegt umso schwerer, als jede zehnte der gültigen Stimmen auf die rechtsextreme NPD entfällt.
Kein anderer Genosse verkörpert wie er die gewandelte SPD : Außenminister Willy Brandt mit Frau Rut 1968 beim Bundespresseball in Bonn.
Einige Wochen lang erweckt der Juniorpartner im Bonner Bündnis den fatalen
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