Wilsberg 03 - Gottesgemuese
arbeitslos bin, kann ich mir die teuren Trainingskurse nicht leisten.«
Ich sagte nichts. Andernfalls hätte ich meine Legende gleich in den Mülleimer schmeißen können.
Die nächsten Stunden trainierten wir eifrig. Claudia war etwas mutiger geworden und erzählte mir eine Horrorgeschichte nach der anderen und ich ging von den Kindheitsverletzungen zu den Autounfällen über. In einer Pause gönnte ich mir einen Kaffee im Foyer, während Claudia wieder mal einen Gesprächstermin hatte.
Außer mir befand sich nur eine junge Frau im Raum. Sie trug einen dieser grellbunten Ballonseidenanzüge und war kreidebleich. Ich lächelte sie an.
Sie lächelte zurück. »Ganz schön anstrengend, was?«
»Kann man wohl sagen.« Ich transportierte den Kaffee zu ihrem Tisch. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Natürlich.«
»Haben Sie auch gerade Pause?«, erkundigte ich mich, um das Gespräch in Gang zu halten.
»Nein. Ich warte auf meinen Reparaturtermin.«
»Ihren was?«
»Reparaturtermin. Bei mir ist im dritten Trainingskurs was falsch gelaufen. Ich konnte die Handlungsanforderungen nicht erfüllen. Ich wusste, was ich tun musste, aber ich habe etwas ganz anderes gemacht. Und plötzlich bin ich zusammengebrochen. Kreislaufkollaps, Krankenhaus und so.«
»Und das kann man reparieren?«
»Sicher. Dafür gibt es ja ausgebildete Trainer hier im Zentrum. Die kriegen das schon wieder hin.«
»Wie beruhigend«, sagte ich. »Jetzt erinnere ich mich, einem Bekannten von mir ist das, glaube ich, auch mal passiert. Aber in einem höheren Trainingskurs, im sechsten oder siebten. Kennen Sie ihn übrigens? Er heißt Martin Kunstmann.«
»Martin? Na klar kenne ich den. Der ist doch schon mehrere Jahre hier. Aber dass der mal einen Trainingsunfall gehabt haben soll, davon weiß ich nichts.«
»Kein schwerer Unfall, so viel ich gehört habe. Erst letzte Woche wollte ich ihn anrufen, aber seine Frau sagte mir, dass er verschwunden sei.«
Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern: »Er hat in Blackhill sein Geistwesen I gemacht.«
Ich flüsterte ebenfalls: »Das sagte seine Frau auch. Aber er hätte schon längst zurück sein müssen.«
Sie blickte sich um und beugte sich dann zu mir herüber. »Man munkelt, dass er einen schweren Fehler begangen hat. Er ist dafür bestraft worden.«
»Tatsächlich?«
»Einen so schweren Fehler, dass er in ein Rehabilitationszentrum musste.« Sie riss die Augen weit auf.
»Wissen Sie, in welches?«
Sie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
»Schade. Ich habe eine wichtige Nachricht für ihn. Ich würde sie ihm gerne zukommen lassen.«
»Wenn man in einem Rehabilitationszentrum ist, darf man sowieso keine Briefe von außerhalb erhalten. Es sei denn, sie werden vom Orden des Tempels weitergeleitet.«
»Die Nachricht betrifft das ›Geistige Training‹. Der Orden wird sie bestimmt weiterleiten.«
»Warum gehen Sie dann nicht den offiziellen Weg, über die Leitung des Borbecker Zentrums?«
»Das habe ich schon versucht. Aber die sagen mir ja nicht mal, dass er in einem Rehabilitationszentrum ist.«
Meine Argumentation war nicht gerade stimmig, aber ich hoffte, dass sie das nicht merken würde. »Könnten Sie für mich rausfinden, wo er ist? Ich meine, darüber wird doch sicher auch gemunkelt.«
Sie sah mich an. »Ich weiß nicht. Vielleicht ist das wieder ein Fehler. Und ich wollte doch keine Fehler mehr machen.«
»Es ist für die Kirche«, sagte ich, »im Sinne von Ross Stocker.«
Wir vereinbarten, dass ich sie am nächsten Tag anrufen würde, und sie gab mir ihren Namen und ihre Telefonnummer. Den Rest der Pause nutzte ich dazu, Anja Kunstmann anzurufen. Sie sagte, sie würde mich gerne treffen. Auch heute Abend.
V
Ich hatte mich von dem Training einigermaßen erholt, war frisch geduscht und rasiert und trug wieder Trenchcoat und Hut. Was für Dr. Gross gut war, konnte für eine Professorengattin nicht verkehrt sein.
In der kleinen Straße in Sprakel hatte man die Schneemassen zu ordentlichen Stapeln gehäuft und auf den Vorgärten abgelegt. Auch der Bürgersteig vor dem Haus der Kunstmanns zeigte sich schneefrei.
Ich klingelte und zwei Sekunden später stand sie in der Tür. Langsam gewöhnte ich mich daran, dass sie auf mich zu warten schien.
Sie wirkte ein bisschen unsicher, als sie mir die Hand gab.
»Was wohl meine Nachbarn denken? Dauernd besucht mich ein fremder Mann und der Hausherr ist verschwunden.«
»Das nächste Mal machen wir eine Vorstellungsrunde«, schlug
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