Wilsberg 05 - Wilsberg und die Wiedertaeufer
arbeiten in Ihrem Auftrag. Sie müssen entscheiden. Wir können versuchen, ihn da herauszuholen, ohne dass die Polizei etwas mitbekommt.«
»Tun Sie das!« Ihre Stimme klang fest und klar.
Als wir gingen, rührten sie sich nicht vom Fleck. Er hing kraftlos im Sessel und stierte vor sich hin, sie stand hinter ihm und redete und redete.
»Ich brauche ein Bier«, sagte ich im Auto, »nein, zwei oder drei oder vier. Dazu den einen oder anderen Mescal.«
Sigi wollte lieber einen Eisbeutel für ihr Auge, und so brachte ich sie zuerst nach Hause und fuhr anschließend zum Alcatraz.
Es war noch verhältnismäßig früh und die Lage im Lokal übersichtlich. Anna stand mit ihrem Freund an der Seitenwand. Nebeneinander, ohne sich zu berühren, blicklos, wortlos.
»Was ist passiert?«, fragte ich Norbert, der mir das erste Bier hinstellte.
»Der Kurzurlaub hat nichts gebracht«, flüsterte er. »Sieht nach Beziehungskrise aus.«
»Prost!«, sagte ich.
»Ab morgen arbeitet sie wieder hier.«
»Ich werde kommen«, versprach ich.
IX
Den nächsten Tag nahm ich frei. Ich wollte keine Eltern sehen, keine Nachbarn, keine gefrusteten Kriminalhauptkommissare, keine Kirchenmänner, nicht mal Sigi. Vielleicht hätte ich Marion-Tori-Mareike sehen wollen, aber da das nun mal nicht ging, verzichtete ich auf alle anderen. Man kann viel herumrennen, Leute befragen, nach Spuren suchen, und tatsächlich hat man die Lösung schon längst im Kopf, man muss nur das, was man weiß, richtig ordnen.
Soweit jedenfalls die Theorie. Ich nahm mir also einen Tag frei, um darüber nachzudenken.
Dazu stopfte ich mir eine Pfeife und legte mich aufs Sofa im Wohnzimmer. Bald stand ich wieder auf und griff zu meinem Lexikon. Kein vierundzwanzig- oder sechsunddreißigbändiges Lexikon, sondern ein mickriges, veraltetes, zweibändiges. Ebenso mickrig war der Abschnitt über die Wiedertäufer: Außenseiter der Reformation, die unter Berufung auf freie Auslegung der Bibel die Kindertaufe ablehnen u. die Spättaufe ausüben. – Die Gemeinde von Münster i. W. unter ↑ Johann von Leyden und ↑ Knippdolling führte zu anarchistischen Erscheinungen (1534–35). »Knippdolling«, das wusste sogar ich, hieß in Wirklichkeit Knipperdolling.
Der Text über Johann von Leyden oder Jan Bockelson war genauso unergiebig. Um 1509 in Leyden geboren, am 22.1.1536 in Münster hingerichtet. Im Alter von 26 Jahren hatte er es zum »König« von Münster gebracht. ↑ Knipperdolling, Bernhard, dtsch. Wiedertäufer war 1534 Bürgermeister von Münster und geriet unter den Einfluss seines Schwiegersohnes ↑ Johann von Leyden u. wurde dessen Scharfrichter. { 6 }
Ich wusste jetzt, dass ich zu wenig wusste, um anständig kombinieren zu können.
In einer Innenstadtbuchhandlung kaufte ich den »König der letzten Tage« und setzte mich in ein nahe gelegenes Yuppie-Café, in dem die Kellnerinnen lange weiße Schürzen trugen und auf einem Bildschirm MTV ohne Ton lief.
Eine böse Falle, wie ich bald feststellen musste. Kaum hatte ich die Einleitung geschafft, setzte sich ein alter Bekannter an meinen Tisch. Er sei gerade auf dem Sprung nach Mittelamerika. Das mache er jedes Jahr um diese Zeit so. Und dann kamen die Geschichten der letzten Jahre. Ganz Mittelamerika rauf und runter.
Ich bekundete mein Mitgefühl. Gerne würde ich mehr über Azteken und sandige Strände hören, aber im Moment müsse ich dringend dieses Buch lesen. Ja, ja, er wolle mich nicht stören. Ein Vorsatz, den er zehn Sekunden lang durchhielt.
Auf dem Rückweg kaufte ich Lachsravioli und Muschelsoße, dazu fertig zubereitete Antipasti. Kein besonders billiges, aber ein äußerst wohlschmeckendes Mittagessen, das genauso schnell auf den Tisch zu bringen ist wie jedes x-beliebige Fertiggericht. Denn ein leerer Bauch stört beim Denken. Ein voller übrigens auch. Ich legte ein kleines Nickerchen ein, gefolgt von einem doppelten Espresso und einer zweiten Pfeife.
Jetzt endlich kam ich zum Lesen. Und nach einer Weile wusste ich eine Menge über die Vorgeschichte der Wiedertäufer. Ich kannte Melchior Hoffmann, den ersten Propheten der Wiedertäufer, der sich in Straßburg freiwillig verhaften ließ, weil er sechs Monate Gefängnis bei Brot und Wasser als notwendige Voraussetzung für die Wiederkehr Christi ansah. In Amsterdam hatten Männer und Frauen ihre Kleidung verbrannt und waren völlig nackt durch die Straßen gelaufen, um mit markerschütternden Stimmen zu rufen: »Wehe! Die Rache Gottes. Die
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