Wilsberg 05 - Wilsberg und die Wiedertaeufer
Januar 1536 wurden die Käfige mit den Leichen der Wiedertäuferführer am Turm der Ludgerikirche aufgehängt. Erinnern Sie sich noch, wann die Käfige gelb angemalt wurden? Es war die Nacht zum 22. Januar.«
»Tatsächlich?« Die Zunge des Weihbischofs leckte an der fleischigen Unterlippe. »Ein interessanter Gedanke.«
»Tun Sie nicht so scheinheilig! Sie haben es die ganze Zeit gewusst.«
Kratz kam seinem Chef zu Hilfe. »Unterstehen Sie sich, in diesem Ton mit seiner Exzellenz zu reden!«
»Lassen Sie ihn, Kratz!«, sagte Becker müde. »Die Kirche hat jahrhundertelang alle Verfolgungen überstanden. Ich wäre ein schlechter Kirchenmann, wenn ich die Anwürfe eines Atheisten nicht verkraften könnte.«
»Danke«, bemerkte ich sarkastisch. »Damit haben Sie mir das Stichwort für mein letztes Argument geliefert. Wer profitiert denn unter dem Strich von den Anschlägen? In Zeiten der Kirchenkrise, in denen Ihnen die Gläubigen scharenweise weglaufen und die Kirchensteuer infrage gestellt wird, kann Ihnen doch nichts Besseres passieren, als das Opfer von kirchenfeindlichen Attentaten zu sein. Plötzlich stehen Sie im warmen Licht der öffentlichen Sympathie. Ist es daher so abwegig anzunehmen, dass die Idee zu den Anschlägen von Ihnen selbst stammt?«
Der Weihbischof schüttelte nur den Kopf, und Kratz schrie: »Haben Sie dafür irgendeinen Beweis?«
Damit hatte er zielsicher den Schwachpunkt meiner Ausführungen getroffen. Doch bevor ich zu einer ausweichenden Antwort ansetzen konnte, klingelte das Telefon. Weihbischof Becker nahm den Hörer ab, hörte ein paar Sekunden lang schweigend zu und legte wieder auf.
»Kratz«, wandte er sich an seine rechte Hand, »draußen wartet der nächste Besucher. Würden Sie ihn bitte in Empfang nehmen!«
Kratz verschwand, und Becker lehnte sich lässig im Sessel zurück. Ein mildes Lächeln, das nicht bis zu den stahlgrauen Augen reichte, leitete die nächste Bemerkung ein: »Ganz schön clever. Aber nicht clever genug.«
Das klang so verdammt selbstsicher, dass mir etwas mulmig wurde. Und noch mehr beunruhigte mich, dass er keine Anstalten machte, das Gespräch fortzusetzen, sondern anfing, in einer Akte zu blättern. Die Sekunden verstrichen, mein Magen krampfte sich zusammen. Hatte ich einen Fehler gemacht? Mich zu weit aus dem Fenster gelehnt?
Kratz brachte die Antwort mit, als er zurückkam. Zwei uniformierte Beamte blieben an der Tür stehen, und Hauptkommissar Stürzenbecher baute sich vor mir auf: »Georg Wilsberg, Sie sind vorläufig festgenommen.«
»Aber wieso denn?«, fragte ich blöde.
»Sie sind verdächtig, einer kriminellen Vereinigung anzugehören.«
»Das ist doch idiotisch«, protestierte ich.
»Ich habe Beweise«, entgegnete Stürzenbecher knapp.
»Außerdem können wir bezeugen«, fügte Kratz mit Leichenbittermiene hinzu, »dass Sie uns im Namen des Kommandos Jan van Leiden mit weiteren Anschlägen gedroht haben.«
»Das ist ein Missverständnis«, wiederholte ich zum zehnten Mal. »Eine Verkettung unglücklicher Umstände.«
»Und das hier?« Stürzenbecher tippte auf das Foto, das zwischen uns lag. Es zeigte einen rennenden Mann vor einer Hausfassade. Ich erkannte nicht nur den Mann, sondern auch das Haus. Es stand am Anfang der Hammer Straße, wenige Meter vom Ludgeriplatz entfernt. Bemerkenswert war auch, was sich am linken unteren Bildrand abspielte: Da rissen vier Polizistenhände gerade einen jungen Mann zu Boden.
»Im Profil sehe ich nicht besonders gut aus. Sag dem Polizeifotografen, er soll mich das nächste Mal von vorne aufnehmen!«
Stürzenbecher schnitt eine Grimasse. »Du glaubst gar nicht, wie mir deine Witze auf den Geist gehen. Sie stehen mir bis hier.« Er zeigte mit der flachen Hand auf die Oberkante seiner Unterlippe. »Und jetzt erzählst du mir, was du am Morgen des 5. April am Ludgeriplatz gemacht hast.«
»Warte mal!« Ich tat so, als würde ich überlegen. »Ich wollte mir gerade ein paar Brötchen kaufen. Just in dem Moment, als ich die Bäckerei betrat, hörte ich vom Ludgeriplatz ein Geräusch, als würde ein Formel-1-Fahrer gegen eine Betonwand fahren. Natürlich packte mich sofort die Sensationsgier, und ich bin hingerannt. Wie man auf dem Foto sieht.«
»Scheiße!« Stürzenbecher brüllte so laut, dass die Wände wackelten. In der Tür zum Nebenzimmer erschien ein besorgter Kopf: »Alles in Ordnung, Chef?«
»Ja, ja.« Stürzenbecher verscheuchte den Kopf mit einer Handbewegung. Leiser und drohend
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