Wilsberg 08 - Das Kappenstein-Projekt
gefaltete Männerunterwäsche lag. Rechts von mir hing ein gerahmtes 1000-Teile-Puzzle, das Schloss Neuschwanstein zeigte, an der Wand. Vor mir hatte sich ein freundlicher, bärtiger Pfleger aufgebaut, der mir erklärte, dass er zuerst die Stationsärztin fragen müsse, bevor er mich zu Lars Merten gehen lassen dürfe.
Schon nach weiteren zehn Minuten traf auch die Stationsärztin ein. Sie hieß Doktor Liesenkötter und war eine unbekümmerte junge Frau. Wir scherzten über die Schwierigkeit, sich im Stift Kerßenbrock zurechtzufinden.
»Oh ja«, lachte sie, »als ich hier anfing, war es die reinste Katastrophe. Ich habe keinen guten Orientierungssinn, wissen Sie. Und nachts, wenn ich Bereitschaftsdienst hatte und zu irgendeiner Station gerufen wurde, habe ich mich manchmal regelrecht verlaufen.« Sie musterte mich aufmerksam. »Warum wollen Sie Herrn Merten besuchen?«
»Ich bin ein alter Freund von ihm. Und da ich gerade zufällig ein paar Tage in Münster zu Besuch bin, dachte ich, ich könnte ihm mal guten Tag sagen.«
»Wann waren Sie mit ihm befreundet?«
»Das ist schon lange her«, antwortete ich unbestimmt.
»Vor oder nach 1978?«
Ich überlegte. »Kurz danach.«
»Dann werden Sie nicht viel Glück haben, fürchte ich. Alles, was nach 1978 passiert ist, ist aus seinem Gedächtnis verschwunden.«
Ich machte ein betroffenes Gesicht. »Steht es so schlimm um ihn?«
»Leider ja. Er hat eine Krankheit, die sich Korsakow-Syndrom nennt, eine schwere, retrograde Amnesie. Das heißt, sein Gedächtnis funktioniert bis etwa 1977 ausgezeichnet, die nächsten ein, zwei Jahre sind noch bruchstückhaft vorhanden, danach tut sich eine große Leere auf. Sein Frischgedächtnis reicht ungefähr zwei Minuten weit.«
»Frischgedächtnis?«, wiederholte ich.
»Die aktuelle Erinnerung. Sie können sich mit ihm unterhalten, und er wird Ihnen auch vernünftige Antworten geben. Aber sobald ein Gespräch länger als zwei Minuten dauert, hat er den Anfang vergessen. Das führt dazu, dass er oft kurze, schlagfertige Bemerkungen äußert. Es macht manchmal richtig Spaß, mit Herrn Merten zu reden, weil er sehr witzig sein kann.«
»Weiß er, dass er sein Gedächtnis verloren hat?«
»Ja und nein. Er hat eine Ahnung davon, dass er ständig vergisst. Wenn Sie ihn darauf ansprechen oder mit Ereignissen konfrontieren, die nach 1978 geschehen sind, ist er sehr betroffen. Aber nach zwei Minuten hat er auch das wieder vergessen.«
»Dürfte ich trotzdem mit ihm sprechen?«, bat ich.
»Warum nicht?«, antwortete sie freundlich. »Ich möchte Sie nur bitten, schonend mit ihm umzugehen und ihn nicht aufzuregen. Das könnte in seinem Zustand zu Krämpfen führen.«
Sie zeigte mir das Zimmer. Am Türpfosten klebte die Kopie eines Fotos, auf dem ein schnauzbärtiger junger Mann mit Nickelbrille zu sehen war.
Ich klopfte und hörte ein lautes »Herein«.
Der Raum war klein und zweckmäßig eingerichtet. Ein Schrank, ein Regal, ein Schreibtisch, ein Bett, alles aus billigem Holz und auf wischfestem Bodenbelag. Die persönliche Note des Bewohners erschöpfte sich in einem chinesischen Wimpel auf dem Schreibtisch und einem gerahmten, farbigen Bild von Mao Zedong über dem Bett.
Lars Merten saß am Kopfende des Bettes, die Beine auf dem Bett ausgestreckt. Er trug eine braune Stoffhose und ein rosafarbenes Hemd. Sein Haar war kurz geschnitten und seitlich gescheitelt. Zwischen den Händen hielt er eine alte Ausgabe von China heute .
»Hallo Lars!«, sagte ich.
»Hallo!«, antwortete er mit neugierigem Blick.
»Kennst du mich nicht mehr? Ich bin Peter Hesker.«
»Dunkel«, wich er aus. »Hilf mir doch mal auf die Sprünge!«
»Wir haben zusammen studiert. Ich bin ein Freund von Katja Imhoff und Heiner Kleine-Langen.«
Er strahlte. »Katja und Heiner, natürlich. Das sind Genossen von mir.«
Ich blickte mich um. »Was machst du denn hier so?«
»Politisch arbeiten, wie immer. Ich musste vorübergehend hier einziehen, weil sie mir meine Bude weggenommen haben.« Er senkte verschwörerisch die Stimme. »Ist dir aufgefallen, dass hier lauter Verrückte herumlaufen? Die lassen sich überhaupt nicht agitieren, aber sie stören mich nicht bei der Arbeit.«
»Und worin genau besteht deine Arbeit?«
»Meine Arbeit?« Er schaute mich verwirrt an. Dann entdeckte er die China heute in seinen Händen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich arbeite an einer Kritik der revisionistischen Strömungen der sozialistischen
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