Wilsberg 13 - Wilsberg isst vietnamesisch
vorgehaltener Hand, dieses unselige Wort vom Todesengel. Wenn Sie Frau Kentrup kennen würden, so wie ich sie kenne, dann wüssten Sie, dass es Unfug ist. Frau Kentrup ist eine lautere und selbstlose Frau, die aus reiner Nächstenliebe hilft. Sie ist über jeden Zweifel erhaben.«
»Ihr Glaube in Ehren«, sagte ich, »aber mein Job ist es, Fakten zu sammeln.«
»Ihr Job!« Er winkte ab. »Denken Sie, ich bin auf Ihren albernen Ausweis reingefallen? Meine Messdiener haben auch solche Dinger. Was auch immer Sie sind, Herr Wilsberg, eines sind Sie jedenfalls nicht: ein Kriminalbeamter.«
Das saß. Ich schwieg verdutzt.
»Und ich rate Ihnen eines«, wurde der Pfarrer lauter, »lassen Sie Frau Kentrup in Ruhe! Sonst bekommen Sie meinen heiligen Zorn zu spüren. Oder profaner ausgedrückt: Ich werde Sie wegen Amtsanmaßung anzeigen. Haben Sie mich verstanden?«
»Klar und deutlich.« Ich erhob mich von dem Sünderstuhl, auf dem ich gesessen hatte. »Bei Ihrer Aufzählung der wichtigen Werte haben Sie übrigens einen vergessen: die Wahrhaftigkeit.«
Nicht im Traum dachte ich daran, seinem Ratschlag zu folgen. Ich war schon ein paar Jahre zu lange im Geschäft, um mich so leicht einschüchtern zu lassen. Zur Not musste ich eben ohne priesterlichen Beistand auskommen. Pfarrer Brockhages Drohung hatte nur eines bewirkt: Ich war jetzt noch neugieriger auf die Frau mit dem merkwürdigen Spitznamen Todesengel.
Laut Telefonbuch gab es zwei Kentrups in Sankt Mauritz, einen Willy Kentrup und einen oder eine A. Kentrup. Da sich hinter Buchstabenkürzeln zumeist allein lebende Frauen verbargen, fuhr ich zuerst zu A. Kentrup.
Eine stämmige Frau um die fünfzig, mit haltbarer Dauerwelle und einem nicht unsympathischen Gesicht, empfing mich an der Tür.
Ich stellte mich vor und zeigte ihr einen anderen Ausweis aus meiner großen Sammlung. »Ich arbeite für die Wochenendbeilage der Münsterschen Nachrichten . Wir planen eine Reihe von Porträts über Menschen, die sich freiwillig um ihre Mitbürger kümmern. Neben anderen fiel auch Ihr Name. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Sie für ein Interview zur Verfügung stehen.«
Ihre Augen blitzten schelmisch. »Sie sind ein Lügner.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Pfarrer Brockhage hat mich angerufen und vor Ihnen gewarnt. Er hat Sie genau beschrieben.«
»Tja, wenn das so ist ...«
»Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei«, sagte sie freundlich, aber bestimmt.
Ich entschied mich für das Erstere.
In meinem Beruf musste man lernen, Rückschläge hinzunehmen. Sie kamen unverhofft wie Schnee im April, der jetzt auf die Windschutzscheibe rieselte. Privatdetektive waren eben keine Bullen, die kraft ihres Amtes die ›Wo-waren-Sie-gestern-zwischen-neunzehn-und-einundzwan-zig-Uhr?‹-Fragen stellen konnten. Also mussten Privatdetektive cleverer sein und gelegentlich mal gegen das Gesetz verstoßen.
Diesmal hatte ich keine Idee, wie ich die Wartezeit verkürzen konnte. Kentrup war gewarnt, sie würde nicht auf ein billiges Ablenkungsmanöver hereinfallen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich in Geduld zu üben. So saß ich in meinem Auto, fror vor mich hin und behielt das Haus, in dem Kentrup wohnte, im Auge.
Eine Stunde verging und noch eine, der Minutenzeiger kroch langsam seine Runde. Ich kannte alle Staus auf den Autobahnen auswendig, ich hatte Hunger, ich musste dringend auf die Toilette, ich dachte sehnsüchtig an meine geheizte Wohnung. Als ich nahe daran war aufzugeben, verließ Kentrup das Haus. Sie trug eine Einkaufstasche in der Hand und strebte wegen der Straßenglätte mit vorsichtigen Schritten in Richtung Supermarkt auf der Mondstraße. Daraus folgte, dass ich etwa eine halbe Stunde Zeit hatte.
Ich drückte auf die oberste Klingel, rief »Paketservice. Danke!« nach oben und wartete fünf Minuten unter der Kellertreppe. Dann schlich ich zur Wohnung von Kentrup.
Ich brauchte drei Minuten, um das Schloss zu knacken. Als Erstes erleichterte ich mich auf der Toilette. Anschließend warf ich einen Blick in den Medizinschrank, entdeckte aber keine handelsüblichen Gifte.
Für eine gründliche Suche fehlte mir ohnehin die Zeit. Vorläufig genügte mir ein Verzeichnis von Kentrups Opfern.
Es lag in der obersten Schublade einer Kommode im Wohnzimmer, ein dickes Notizbuch, das etwa hundert Namen, Adressen und Telefonnummern enthielt. Nach zwanzig Minuten hatte ich fast alle Namen abgeschrieben. Da ich kein Risiko eingehen wollte, verzichtete ich auf den
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