Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wilsberg 13 - Wilsberg isst vietnamesisch

Wilsberg 13 - Wilsberg isst vietnamesisch

Titel: Wilsberg 13 - Wilsberg isst vietnamesisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Kehrer
Vom Netzwerk:
ist nicht jede Leiche gleich. Auf der anderen Seite fallen Tötungsdelikte an alten Leuten, sozialen Randgruppen oder Säuglingen durch den Rost. Das ist die Kehrseite der Medaille. Ich weiß, wovon ich rede. Wir haben in Münster eine Untersuchung zum Plötzlichen Kindstod durchgeführt. Von etwa dreihundert verstorbenen Säuglingen und Kleinkindern, bei denen es in keinem Fall einen konkreten Tötungsverdacht gab, waren acht umgebracht worden.«
    Trotz der einwandfrei funktionierenden Heizung fühlte ich einen kalten Hauch.
    »Wollen Sie noch mehr Zahlen hören?«, fragte Celenius. »In Deutschland werden pro Jahr sieben bis acht Prozent aller Leichen seziert, lediglich ein bis zwei Prozent von Rechtsmedizinern. In Finnland werden fünfunddreißig Prozent aller Leichen seziert, davon erledigen Rechtsmediziner fünfzehn Prozent. Während in Deutschland auf zehntausend Verstorbene durchschnittlich zwanzig Getötete kommen, sind es in Finnland dreiunddreißig. Da sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und Finnland nicht sehr unterscheiden, kann man wohl annehmen, dass auch in Deutschland die Zahl der Morde erheblich höher liegen würde, gäbe es mehr Obduktionen.«
    Wir erreichten die Stadtgrenze von Greven. Der Professor fuhr auf der Westumgehung um den Ortskern herum.
    »Je weiter entfernt von einem rechtsmedizinischen Institut ein Todesfall stattfindet«, redete er weiter, »desto geringer ist die Bereitschaft, die Leiche wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Wenn jemand, sagen wir, im Sauerland stirbt, bedeutet es für den Kriminalbeamten eine Tagesreise, die Leiche bis zu unserem Institut in Münster zu begleiten. Also drängt er den Arzt, obwohl dieser seine Zweifel hat, eine natürliche Todesursache zu attestieren. Doch anstatt gegenzusteuern, die Todesfalluntersuchungen zu verbessern, die Ausbildung zu qualifizieren, mehr Rechtsmediziner zu beschäftigen, forciert die Politik diesen Trend. Die Abschaffung von Rechtsmedizinischen Instituten bedeutet, dass weniger Leichen seziert und weniger Morde entdeckt werden, dass die Ausbildung von Allgemeinmedizinern, die sowieso schon bei der Leichenschau überfordert sind, noch weiter verschlechtert wird. In einigen Bundesländern ist man sogar dabei, auf dem Totenschein die Rubrik ›ungeklärte Todesart‹ abzuschaffen. Damit macht man die Notärzte zu Hellsehern. Denn wie sollen sie bei einem Toten, der ihnen in der Regel völlig unbekannt ist, entscheiden, ob er eines natürlichen oder eines unnatürlichen Todes gestorben ist, falls er keine offensichtlichen äußeren Verletzungen aufweist?«
    »Und wie erklären Sie diese Entwicklung?«, fragte ich.
    Der Professor grinste kurz. »Tote haben keine Lobby. Sie können nicht wählen, also sind sie für die Politiker unwichtig.«
    »Das ist zynisch.«
    »Die Realität ist zynisch. Dabei betreiben wir Rechtsmediziner Präventivmedizin.«
    »An Leichen?«
    »Sicher. Sehen Sie, viele Mordserien, besonders in Altenheimen oder Krankenhäusern, werden erst entdeckt, nachdem bereits zehn, fünfzehn oder zwanzig Opfer gestorben sind. Einigen Mitgliedern des Personals fällt auf, dass während der Schicht einer bestimmten Schwester oder eines bestimmten Pflegers häufig Patienten versterben. Man beginnt zu munkeln, dann – oft sehr viel später – gibt es einen anonymen Hinweis an die Polizei. Bis zum Beginn der Ermittlungen vergeht noch einmal Zeit. Und erst jetzt, wenn der Nachweis des einundzwanzigsten Mordes gelingt, wird der Täter verhaftet. Wären die ersten Todesfälle gründlich untersucht worden, hätten wir das Leben der anderen Opfer retten können. Und ich rede hier von Mordserien, die durch die hohe Zahl der Opfer auffallen. Diejenigen, die nur fünf- oder sechsmal morden, werden nie gefasst, sie tauchen in keiner Statistik auf.«
    Celenius bog in die Zufahrt zum Flughafen ein. Bauernhöfe und Felder säumten die Landstraße.
    Ich erinnerte mich an Stürzenbechers Bemerkung über die Dunkelziffer, die eine liberale Gesellschaft ertragen müsse.
    »Das ist richtig. Totale Aufklärung von Verbrechen gibt es nur bei totaler Kontrolle. Das will niemand. Also müssen wir mit einem Dunkelfeld bei Mord und Totschlag leben. Die Frage ist nur, wie groß dieses Dunkelfeld sein soll. Im Moment befinden wir uns in Deutschland auf einer abschüssigen Bahn. In Europa liegen wir, was fachkundige Sektionen angeht, sehr weit hinten, dafür sind wir führend bei Exhumierungen. Das liegt daran, dass viele Morde

Weitere Kostenlose Bücher