Wilsberg 13 - Wilsberg isst vietnamesisch
erst im Nachhinein und zufällig erkannt werden, beispielsweise wenn ein Täter, der wegen eines aktuellen Mordes gefasst wird, gleich noch fünf andere gesteht. Es entwickeln sich gesellschaftliche Graubereiche, in denen quasi ungestraft gemordet werden kann. Das betrifft alte Leute, aber auch Drogensüchtige, Obdachlose oder Säuglinge.«
Unvermittelt tauchten die Flughafengebäude vor uns auf. Für viele Millionen und gegen den erbitterten Widerstand der Umweltschützer hatten die regionalen Politiker in den letzten Jahren Weltstadt gespielt. Die neuen Hallen sahen so aus, als wären sie bei einem Freigang aus Düsseldorf oder Frankfurt entwischt.
Professor Celenius stellte seinen Jaguar im Parkhaus ab. Wir gingen zum Abflug-Terminal, dessen Vordach von imposanten Säulen gestützt wurde.
»Um auf Ihr Anliegen zurückzukommen«, sagte der Rechtsmediziner, »ich kenne einen der Oberstaatsanwälte ganz gut. Ich werde mal mit ihm reden – wenn ich wieder in Münster bin. Erwarten Sie aber nicht zu viel. Auch bei der Staatsanwaltschaft verbrennt sich niemand gern die Finger.«
Im Erdgeschoss der Halle hätten auch drei Jumboladungen kein Gedrängel verursacht. Da in Münster keine Jumbos landeten, wirkte es allerdings ziemlich leer.
Nachdem Celenius eingecheckt hatte, schaute er auf einen der Monitore. »Wir haben noch Zeit für einen Kaffee. Kommen Sie, ich lade Sie ein.«
Eine Rolltreppe höher quetschte sich die coffee bar in eine Ecke, als hätte sie Platzangst.
Wir orderten Cappuccini und rauchten Zigarillos.
»Sie fliegen dienstlich nach Mailand?«, erkundigte ich mich höflich.
»Ja. Ein ganz alter Fall.« Seine Augen blitzten vor Freude. »Sagt Ihnen der Name Roberto Calvi etwas?«
»Mafia?«, riet ich. »War Calvi nicht Banker?«
»Genau. Roberto Calvi war Chef des Banco Ambrosiano, einer Mailänder Privatbank mit besten Beziehungen zum Instituto per le Opere di Religione, dem Institut für religiöse Werke, der Bank des Vatikans. Zusammen mit Erzbischof Marcinkus, dem Chef der Vatikanbank, machte er Geschäfte mit Michele Sindona, einem bekannten Mafia-Bankier, und Licio Gelli, dem Großmeister der berüchtigten P2-Loge. Calvi wurde 1981 verhaftet und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Weil er gegen das Urteil Berufung einlegte, kam er frei und flüchtete nach London. Dort fand man seine Leiche im Juni 1982 – erhängt an der Blackfriars Bridge. Seltsamerweise an einer schwer zugänglichen Stelle, nämlich an einem Baugerüst am Fuß der Brücke. Seine Beine hingen bis zu den Knien im Wasser, die Manteltaschen waren mit Ziegelsteinen beschwert. Für einen Selbstmörder wäre es sehr schwierig gewesen, über das Baugerüst nach unten zu klettern. Einiges spricht dafür, dass Calvi mit einem Boot zu der Brücke gebracht wurde. Nun ...«, Celenius paffte eine Rauchwolke in die Luft, »... auch Rechtsmediziner machen Fehler. Mein Londoner Kollege wollte zu der Hochzeit seiner Tochter. Er wusste nicht, um wen es sich bei dem Toten handelte, und führte nur eine oberflächliche Sektion durch, mit dem Ergebnis, dass Selbstmord wahrscheinlich sei. Erst ein Dreivierteljahr später begannen die Mordermittlungen. Im Juni 1996 wurde ein Mafioso namens Francesco di Carlo wegen des Mordes an Calvi festgenommen. Zum Glück war die Leiche Calvis die ganze Zeit kühl gelagert worden, denn noch immer ist die Frage, ob Calvi Selbstmord begangen hat oder ermordet wurde, nicht endgültig geklärt. Ich gehöre einer internationalen Kommission an, die ein Gutachten zu dem Fall abgeben soll. Anlässlich unseres Treffens in Mailand werde ich mir eine Scheibe von Calvi abschneiden und dann später hier in Münster untersuchen.«
Celenius' Flug wurde aufgerufen.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden!«, sagte der Professor zum Abschied. »Und ich werde sehen, was sich machen lässt.«
Während ich auf den Bus wartete, der mich nach Münster zurückbringen sollte, rief ich Hauptkommissar Stürzenbecher an. Er musste aus einer Sitzung geholt werden und war ziemlich ungehalten.
»Was willst du schon wieder?«
»Wer hat die Totenscheine der vier Frauen aus Sankt Mauritz ausgestellt?«
»Doktor Thalheim.«
»Aha.«
»Nichts aha«, knurrte Stürzenbecher. »Es gibt nur zwei Allgemeinmediziner in Sankt Mauritz.«
»Also wieder so ein blöder Zufall?«
»Genau.«
Bevor ich noch etwas sagen konnte, legte er auf.
XII
Franka saß angezogen auf dem Krankenhausbett.
»Wir wollten gerade gehen«, erklärte sie
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