Wilsberg 15 - Wilsberg und die Malerin
Utopia hieß.
»Establishment«, sagte ein Mann, der allein auf einem Stuhl saß, »das ist das Zauberwort der Postmoderne.« Trotz der abendlichen Wärme trug er einen flauschigen Pullover. An seinem Hals hing eine Kette aus Plastikbeutelverschlüssen. »Vier Komma sieben Millionen Arbeitslose und George Bush verbietet die Windkraft.«
»Verstehe«, sagte ich.
»Den Klodeckel zu und wegspülen – das wollen sie mit uns machen.«
»Ganz meine Meinung«, sagte ich. »Wo finde ich Lena?«
»Da drüben!« Er zeigte auf einen rot angestrichenen Wohnwagen. »Wir sind Sklaven der Stromkonzerne.«
Ich hielt mich nicht mit Klopfen auf, ich öffnete einfach die Tür und ging hinein. Lena und ihr Freund saßen auf einer Matratze. Sie erkannten mich sofort. Der Junge sprang auf und ballte die Fäuste.
»Bleib cool!«, beschwichtigte ich ihn. »Ich will keinen Ärger.«
Er zögerte. »Wie haben Sie uns gefunden?«
»Ich habe Lena vom Atelier aus verfolgt.«
Das Mädchen schnitt eine Grimasse. »Wozu? Wollen Sie uns der Polizei ausliefern?«
»Nein«, sagte ich ruhig. »Niemand hat Sie angezeigt. Ihr Vater hat sein Bild zurückbekommen. Sie haben nichts zu befürchten.«
»Was wollen Sie von uns?«, fragte der Junge aggressiv.
»Ihre Schwester Nora hat mich beauftragt, Sie zu suchen«, wandte ich mich an Lena. »Sie möchte, dass Sie nach Zürich zurückkommen.«
»Nora!« Sie spuckte den Namen aus. »Die kann mich mal.«
Genau so hatte ich mir das Gespräch vorgestellt. Ich zog eine Visitenkarte aus der Tasche und schob sie unter einen Stapel von dreckigem Geschirr, der auf einem Holzbrett stand. »Denken Sie darüber nach! Wenn ich Ihnen erzählen soll, was Nora sonst noch gesagt hat, rufen Sie mich einfach an. Wir können ein Treffen vereinbaren, irgendwo in der Stadt. Und seien Sie unbesorgt! Die Polizei wird nichts davon erfahren. Ich bin Privatdetektiv. Ich mache nur das, wofür ich bezahlt werde.«
Ich hoffte, dass ich damit einen Köder ausgeworfen hatte, der sie neugierig machte. Aber allzu zuversichtlich war ich nicht.
Als ich nach Hause kam, war ich todmüde und wäre am liebsten gleich ins Bett gefallen. Stattdessen rief ich Nora Gessner in Zürich an und berichtete ihr von den Ereignissen des Abends.
Sie dachte lange nach. »Vielleicht sollte ich selbst nach Münster kommen und mit Lena reden.«
»Sie kennen Ihre Schwester besser als ich.«
»Gerade deswegen zögere ich. Wenn sie merkt, dass man sie zu etwas drängen will, wird sie störrisch und macht das Gegenteil.«
»Dann warten wir doch erst einmal ab, ob sie sich bei mir meldet.«
Offenbar spürte Nora, dass ich für eine tiefer gehende Diskussion zu müde war. Sie stimmte zu und ich versprach, sofort bei ihr anzurufen, wenn ich etwas Neues erfahren würde.
IV
Am Wochenende war meine elfjährige Tochter Sarah körperlich anwesend. Geistig schwebte sie in den Sphären der modernen Kommunikationstechnologie. Den überwiegenden Teil der Zeit verbrachte sie damit, SMS-Nachrichten in ihr Handy zu tippen und auf das Piepsen der Antwort zu warten. Ergaben sich zwischendurch mal Pausen, nutzte sie meinen Festanschluss für längere Gespräche mit ihren Freundinnen. Und da sie damit offenbar immer noch nicht ausgelastet war, fragte sie mich, ob sie meinen Computer benutzen dürfe. Ein paar Minuten später stellte ich mit einem Blick über ihre Schulter fest, dass sie sich in einen Chatroom eingeklinkt hatte und sich als Dreizehnjährige ausgab.
Als ich sie zwang, während des Abendessens das Handy auszuschalten, war sie tödlich beleidigt und strafte mich mit Gesprächsverweigerung. Ich sagte mir, dass bei Sarahs Erziehung irgendetwas schief gegangen sein musste. Wofür ich natürlich meine Exfrau Imke verantwortlich machte, bei der Sarah wohnte. Außerdem tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass vermutlich Millionen Eltern von ähnlichen Selbstzweifeln geplagt wurden.
Immerhin endete der Abend einigermaßen harmonisch. Wir hatten eine DVD ausgeliehen, die mehr ihrem als meinem Geschmack entsprach, und schauten einem jungen, gut aussehenden Hollywoodschnösel dabei zu, wie er Mädchen aufriss. Während des Films klingelte Sarahs Handy höchstens sechs oder sieben Mal.
Am Sonntag lief es besser. Wir schafften es, mehr als ein paar Sätze miteinander zu wechseln, ohne dass Sarah mit einem Auge zu ihrem Handy schielte. In versöhnlicher Stimmung brachte ich sie am Sonntagnachmittag nach Lüdinghausen, zu ihrer Mutter. Und machte den Fehler, mit
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