Wilsberg 15 - Wilsberg und die Malerin
der Klinik muss er sein Natel ausschalten.«
»Sein was?«
»Sein Mobiltelefon.«
»Guten Morgen!« Regula Isolde Böckle hatte eine vom Rauchen tiefer gerutschte Stimme. Sie war etwa Mitte vierzig, trug ein dunkelblaues Kostüm über den füllig gewordenen Hüften und hatte ihre Haare zu einem beängstigenden Turm von geschätzten zwanzig Zentimetern hochgesteckt.
Wir standen auf.
Böckle streckte Nora die Hand entgegen. »Frau ...«
»Gessner«, sagte Nora. »Ich bin die Tochter von Jean Gessner. Und das ist mein Mitarbeiter, Herr Wilsberg.«
»Ah ja«, machte Böckle und gab mir eine feuchte Hand. »Kommen Sie doch bitte mit!«
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Rechtsanwältin, nachdem wir uns in ihrem Büro niedergelassen hatten.
»Ich möchte die Unterlagen der Stiftung Grünland einsehen«, sagte Nora.
»Tut mir Leid«, erwiderte Böckle entschieden. »Dazu bin ich nicht autorisiert.«
»Mein Vater hat die Stiftung doch eingerichtet.«
Ich hielt die Luft an. Nora ließ sich nicht die Spur einer Unsicherheit anmerken. Wusste sie mehr als ich oder bluffte sie nur?
Das Gesicht der Rechtsanwältin gefror zu einer Maske. »Selbst wenn das so wäre, würde das nichts daran ändern ...«
»Falls Sie Zweifel an meiner Identität haben«, Nora griff in ihre Tasche und legte einen Ausweis auf den Schreibtisch, »dann kann ich die beheben.«
»Schön.« Böckle nahm den Ausweis kurz in die Hand. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Frau Gessner: Das hat nichts mit Ihrer Person zu tun. Ich darf niemandem Auskünfte erteilen.«
Nora musterte sie kühl. »Denken Sie, ich habe den weiten Weg von Zürich hierher gemacht, weil ich neugierig bin? Nein, Frau Böckle, ich bin hier, weil mein Vater in Schwierigkeiten steckt. Ich arbeite als Prokuristin bei Egli & Schaaf und werde seit Tagen von einem Begünstigten der Stiftung Grünland bedrängt. Er behauptet, dass er Zahlungen nicht erhalten habe, die ihm avisiert worden seien. Ich muss das Problem lösen, Frau Böckle.«
Sie griff erneut in ihre Tasche und zog eine Aktenmappe heraus, der sie zwei Papiere entnahm. »Hier ist meine Bestellungsurkunde als Prokuristin von Egli & Schaaf und hier die Vollmacht meines Vaters bezüglich der Stiftung Grünland. «
Die Rechtsanwältin konnte kaum überraschter sein als ich. Nur mit Mühe gelang es mir, die Fassade eines leicht gelangweilten Mitarbeiters der Junior-Chefin zu wahren.
Böckle überflog die Papiere. Auf ihrer Oberlippe bildete sich ein Schweißfilm.
»Warum kümmert sich Ihr Vater nicht selbst um die Angelegenheit?«
»Er ist erkrankt. So schwer erkrankt, dass er in den nächsten Wochen nicht in der Lage sein wird, geschäftliche Belange zu regeln. So lange kann ich nicht warten, Frau Böckle. Der Mann, von dem ich spreche, ist nicht sehr geduldig. Und er verfügt über außerordentliche Möglichkeiten, uns unter Druck zu setzen, um es mal vorsichtig auszudrücken.«
Die Anwältin presste ihre Lippen aufeinander. Sie rang einige Sekunden mit sich und kam zu einem Entschluss: »Verzeihen Sie, aber ich muss trotzdem versuchen Ihren Vater zu erreichen.«
»Bitte!« Nora deutete auf das Telefon. »Versuchen Sie es!«
Böckle griff zum Hörer und wies ihre Sekretärin an, eine Verbindung mit Jean Gessner herzustellen.
Die nächsten Minuten bestätigten den Satz der Relativitätstheorie, dass Zeit eine dehnbare Größe ist. Endlich klingelte das Telefon. Die Anwältin nahm ab, hörte kurz zu und legte frustriert wieder auf.
»Wie ich bereits sagte«, Nora machte keinen Versuch, ihre Missbilligung zu verbergen, »mein Vater darf nicht gestört werden. Der Arzt hat ihm strengste Ruhe auferlegt. Ich werde nicht gerne pathetisch, aber es geht hier um Leben oder Tod.«
»Die Zahlungen sind korrekt erfolgt«, platzte es aus Böckle heraus. »Es gibt keinerlei Grund für Beanstandungen.«
»Dafür brauche ich einen Beleg«, blieb die Bankierstochter unerbittlich.
Die Anwältin atmete schwer.
»Frau Böckle«, redete Nora ihr zu, »ich brauche fünf Minuten, um die Unterlagen einzusehen und ein paar Kopien zu ziehen. Das ist alles, was ich will.«
»Gut.« Böckle erhob sich und ging zur Tür. »Folgen Sie mir bitte!«
Ich schloss mich Nora an.
»Das gilt nur für Frau Gessner. Sie müssen hier warten.« Die Schärfe, mit der die Anwältin mich zurückwies, machte deutlich, wie sehr ihr Ego gelitten hatte.
Ich gönnte ihr den kleinen Erfolg und setzte mich wieder. Warum sollte ich daran zweifeln,
Weitere Kostenlose Bücher