Wilsberg 17 - Wilsberg und die dritte Generation
dem Morgen alle zu unserem Treffpunkt im Hinterraum des Buchladens, ohne vorherige Absprache. Wir saßen einfach da und schwiegen. Einige weinten. Für uns war vollkommen klar, dass die Gefangenen ermordet worden waren. Es gab einfach keine andere Möglichkeit. Paradox, nicht wahr?« Er grinste mich an. »Einerseits trauten wir dem Staat alles zu, andererseits waren wir überrascht, dass er sich so verhielt, wie wir ihn sahen und in unseren Flugblättern beschrieben. Irgendwie waren wir tief in unserem Herzen kleine Scheißer. Wir hatten unserer eigenen Rhetorik nicht geglaubt. Und plötzlich standen wir ganz allein da, ohne unsere Eltern Gudrun und Andreas, zurückgelassen in der bösen faschistischen Welt der Bundesrepublik.« Er winkte ab. »Dann hat einer auf den Tisch gehauen und gebrüllt: ›Wir sind doch keine Klageweiber! Der Kampf geht weiter. Jetzt erst recht!‹ Das Übliche eben.«
Ich erinnerte mich, dass ich damals selbst Zweifel am Selbstmord der Stammheimer Häftlinge gehabt hatte. Wie sollten Pistolen, Sprengstoff, Messer und Radios in ihre Zellen gelangt sein, trotz Kontaktsperregesetz und täglichen Zellendurchsuchungen? Wieso war Baader durch einen Nackenschuss gestorben? Und was war mit dem Sand in seinen Schuhen? Das Misstrauen gegenüber der offiziellen Version vom kollektiven Selbstmord hatte die Gesellschaft tief gespalten. Diejenigen, die Fragen stellten, wurden als Sympathisanten der RAF verdächtigt und der Hysterie aufseiten des Staates entsprach die Hysterie der Verfolgten. Der Polizeistaat schien nur noch ein Gesetz entfernt, jedes Klicken in der Telefonleitung galt als Beweis, dass man abgehört wurde. Erst Jahre später wurde bekannt, dass im Kabinett von Bundeskanzler Schmidt tatsächlich über exotische Lösungen wie Sippenhaft oder Erschießung von Häftlingen diskutiert worden war. Allerdings nur kurz. Dann waren die Vorschläge beiseite gelegt worden.
»Die Selbstmordlüge.« Fahle hob sein Glas. Er schwankte jetzt leicht, inzwischen hatte er bereits fünf oder sechs Gläser Bier und zwei Genever getrunken. »Das war über Jahre unser stärkstes Argument.«
Wir standen in einer Kneipe am Rand des Rotlichtviertels. Das Publikum war gemischt, zur Hälfte Freier, die sich Mut antranken oder das Bier danach gönnten, zur anderen Hälfte Paare, die sich auf das reine Besichtigungsprogramm beschränkten.
»Was hast du in der Zeit gemacht, Georg?« Fahle blinzelte. »Ich darf dich doch Georg nennen?«
Ich nickte. Mir war es nicht recht, wenn mich meine Klienten duzten. Andererseits hatte ich inzwischen meinen guten Vorsatz aufgegeben und trank ebenfalls Bier. Da fiel es schwer, auf Herr Wilsberg zu bestehen.
»Ich habe studiert und Flugblätter gegen die Sympathisantenhetze geschrieben. Aber nicht im Traum wäre mir eingefallen, mit einer Knarre rumzulaufen oder Brandbomben zu schmeißen.«
»Ich hatte eine Beretta«, sagte Fahle und leckte sich über die Unterlippe. »Kaliber 7,75. Liegt gut in der Hand. Das war das Initiationsritual.«
»Das was?«
Er lachte. »Bei der Mafia piksen sie sich in die Finger, bei der RAF kriegtest du eine Pistole, wenn du in die Kommandoebene aufgenommen wurdest. Die Pistole musstest du immer bei dir tragen, egal ob du zur Bäckerei oder aufs Klo gegangen bist. Die Pistole abgeben hieß: Du steigst aus.«
»Wann hast du die Pistole bekommen?«
»Winter 1984.«
»Als die zweite Generation der RAF fast komplett im Knast saß.«
»Ja, die RAF war fast tot. Wir haben sie wieder neu aufgebaut.«
»Kurz darauf wurde dieser GI in Wiesbaden erschossen.«
»Pimental.« Er wurde ernst. »Das haben uns alle übel genommen. Diesen kleinen Soldaten im Stadtwald zu erschießen. Es war ein Fehler, wie wir später zugegeben haben.«
»Und was ist mit den anderen?« fragte ich. »Waren das keine Fehler? Dieser Siemens-Manager …«
»Beckurts.«
»Oder der Diplomat …«
»Von Braunmühl.«
»Herrhausen und Treuhand-Chef Rohwedder?«
»Die waren für uns Mitglieder des militärisch-industriellen Komplexes, reaktionäre Bourgeoisie, Imperialisten, der Klassenfeind eben.« Er stellte sein Glas auf die Theke. »Willst du noch eins?«
Die Luft in der Kneipe war verräuchert, ich spürte einen leichten Druck auf den Schläfen. »Ich brauche ein bisschen Sauerstoff.«
»Na schön.« Er schob mich nach draußen. »Laufen wir ein Stück.«
Wir gingen über den Nieuwmarkt mit der Waag in der Mitte, deren massige Türme von Scheinwerfern angestrahlt
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